1 Kein Hund von Uns
Die Vorgeschichte: Warum Europa und Amerika dem Ende Jugoslawiens mehr oder weniger tatenlos zugeschaut haben, obwohl Schreckliches zu erwarten war.
Im Juli 1995, während die Menschen in Europa und Amerika Fe- rien machten, wurden in einer kleinen Stadt in Ostbosnien Hunderte von Muslimen mit verbundenen Augen auf Lastwagen und in Busse geladen. Die Serben hatten wenige Tage gebraucht, um das Städtchen zu erobern. Obwohl die Uno für die Sicherheit von Srebrenica gebürgt hatte, stiessen nun serbische Soldaten die entwaffneten Blauhelme verächtlich beiseite und spazierten durch die Reihen ihrer muslimischen Gefangenen.
In der Nacht zuvor hatten die siegestrunkenen Eroberer die muslimischen Männer von ihren schluchzenden Frauen getrennt, «zur Befragung», sagten die Serben. Doch als die Frauen Gewehrsalven hí¶rten, wussten sie, dass sie die Männer nie mehr sehen würden. Als die Nacht dunkler wurde, holten sich die Soldaten zu ihrem Ver-gnügen junge Mädchen und Knaben, zehn, elf, zwí¶lf Jahre alte.
Die Männer in den Bussen und Lastwagen fuhren eine kurze Strecke durch die Dunkelheit. Dann befahlen ihnen serbische Soldaten, auszusteigen. «Ich sah am untern Rand meiner Augenbinde Gras», erinnert sich einer der muslimischen Männer: «Mein Cousin Haris nahm mich an der Hand. «Sie werden uns hinrichten», sagte er. Ich hí¶rte Gewehrfeuer, Haris wurde getroffen. Er taumelte und riss mich zu Boden. Leute stí¶hnten. Ich spürte, wie Haris’ Kí¶rper schwer wurde. Menschen rangen nach Luft, bettelten um Wasser. Sie wollten nicht durstig sterben. Von Ferne hí¶rte ich einen Bulldozer. Ich hatte Angst, lebend begraben zu werden.»
Von dem mit Leichen übersäten Fussballplatz knipste ein amerikanischer Satellit ein Bild. Wenige Tage später fotografierte ein amerikanischer Pilot aus seinem Aufklärungsflugzeug dieselbe Stelle – inzwischen war der Platz umgegraben, bedeckt von frischer Erde.
Zu jener Zeit war der amerikanische Präsident damit beschäftigt, hinter dem Weissen Haus das Einlochen zu üben. Bill Clinton stand vornübergebeugt auf seinem Privatgolfplatz. Sandy Berger, sein stell- vertretender Berater für Fragen nationaler Sicherheit, und Nancy Soderberg, die Nummer drei im nationalen Sicherheitsrat (NSC), näherten sich ihm zí¶gernd. Sie hätten Neuigkeiten aus Srebrenica, erí¶ffnete Berger und begann, Clinton von Gerüchten über Massenhinrichtungen und Massaker zu erzählen. Er kam nicht weit.
Bob Woodward von der «Washington Post» berichtet: ««Das kann nicht weitergehen», sagte Clinton und bekam einen seiner berühmten Wutanfälle. «Wir müssen die Sache unter Kontrolle bringen.» Wo waren die neuen Ideen? Berger erinnerte ihn daran, dass Anthony Lake, Clintons Berater für Fragen nationaler Sicherheit, eine Endspielstrategie zu entwickeln versuche.
«Ich werde fertiggemacht!» sagte Clinton, und in einem Schwall von Schimpfwí¶rtern brach seine Frustration aus ihm heraus. Ohne zu Berger oder Soderberg aufzublicken, schlug er Ball um Ball in Richtung Loch. Die beiden kickten ihm die Bälle zurück, damit er wieder putten konnte. Er stecke in einer unmí¶glichen Lage, sagte Clinton. Er müsse etwas unternehmen.»
Bemerkenswert ist hier nicht Clintons Tirade – jeder, der seine Karriere verfolgt hat, ist mit derartigem vertraut -, sondern dass seine Regierung nach diesem Ausbruch tatsächlich «etwas unternahm».
Drei Wochen später, am 4. August 1995, führten die Kroaten – nachdem ihnen die Amerikaner diskret grünes Licht gegeben hatten – einen Blitzangriff auf die Krajina, die von Serben bewohnte Region Kroatiens, welche die Serben zu Beginn des Kriegs erobert hatten. In vier Tagen eroberte die kroatische Armee, die mit Hilfe des Irans und anderer Nahoststaaten wiederbewaffnet und deren Soldaten von pensionierten amerikanischen Offizieren ausgebildet worden waren, die ganze Region zurück und vertrieb die Serben, deren Familien in vielen Fällen jahrhundertelang dort gelebt hatten. In der Folge gewannen die Kroaten und die bosnischen Muslime, die dank den Bemühungen amerikanischer Diplomaten ein lockeres Bündnis gebildet hatten, rasch von den Serben besetzte Territorien zurück. Das Kriegsglück begann sich zu wenden.
Am 28. August 1995 feuerten serbische Artilleristen eine Granate in einen Markt von Sarajevo und tí¶teten 37 Menschen. Sofort drängte Clinton die Nato, ihre Jagdbomber zu starten. Mehr als zwei Wochen unablässiger Bombardierungen, Siege auf kroatischer und auf serbischer Seite sowie die damit einhergehenden territorialen und «demographischen» Veränderungen – sprich: «ethnische Säuberungen» – führten dazu, dass drei Monate später in Dayton, Ohio, endlich ein Friedensabkommen geschlossen werden konnte und dass auch amerikanische Soldaten losgeschickt wurden, um es durchzusetzen.
Was hatte Clinton dazu gebracht – nach viereinhalb Jahren unsagbarer Brutalitäten, die rund 300 000 Tote und drei Millionen Flüchtlinge zur Folge hatten -, die amerikanische Armee doch noch in den jugoslawischen Krieg eingreifen zu lassen?
Während der ersten 18 Monate des Kriegs in Jugoslawien, vom Juni 1991 bis Dezember 1992, hatten der damalige Präsident George Bush und seine Berater disziplinierte Reserviertheit praktiziert – «an diesem Kampf ist keiner unserer Hunde beteiligt», wie es der damalige Aussenminister James Baker formulierte. Und obschon Clinton während seiner Wahlkampagne 1992 verkündet hatte, wie sehr das Schicksal der bosnischen Muslime ihn treffe, hatte er sich, sowie er im Amt war, nicht gewillter als Bush gezeigt, das Leben amerikanischer Soldaten zu riskieren, um den Muslimen zu helfen.
Inzwischen war Bosnien zu einem zentralen amerikanischen Interessengebiet geworden: Clintons Sicherheitsberater Anthony Lake erklärte es zu einem «Symbol der US-amerikanischen Aussenpolitik». Wie und wann war es dazu gekommen?
Die andauernden Schlächtereien in Bosnien und die Unfähigkeit der «internationalen Gemeinschaft», sie zu beenden, bedrohten das Prestige und damit auch die Macht der USA und der internationalen Institutionen. Wenn Soldaten eines kleinen europäischen Staates vor den Fernsehkameras der Welt unbewaffnete Menschen in grosser Zahl systematisch umbringen und die führenden Politiker der USA nur händeringend zuschauen, wirken die USA unweigerlich «schwach». Und wenn amerikanische Regierungsvertreter und ihre Pendants in Paris, London und Bonn ihre Zeit damit verbringen, einander í¶ffentlich aufs übelste zu kritisieren, wird das west- liche Bündnis langfristig macht- und bedeutungslos.
Würde dem Blutvergiessen kein Ende gemacht, kí¶nnte es die Nato untergraben sowie die Uno und andere internationale Organisationen zu einem Zeitpunkt schwächen, da sie ihre Absichten für die Welt nach dem Kalten Krieg erklären wollten; und letztlich kí¶nnte es sogar jene internationale Ordnung umstürzen, welche die USA als neue unbestrittene Vormacht aufrechterhalten wollten.
Anfang 1989 sassen in einem verrauchten Büro im siebten Stock des US-Aussenministeriums zwei Jugoslawienexperten, «alte Jugo-Hasen». Das Büro und der Rauch gehí¶rten Lawrence Eagleburger, George Bushs asthmatischem designiertem Unterstaatssekretär, der gerade heimlich eine Zigarette rauchte. Sein Besucher war Warren Zimmermann, ein langjähriger Beamter im diplomatischen Dienst. Eben war seine Berufung zum Botschafter in Jugoslawien vom Senat bestätigt worden; nun wollte er Rat holen bei dem Mann, der Ende der siebziger Jahre denselben Posten innegehabt hatte und den er als «einen der grí¶ssten amerikanischen Balkanexperten» respektierte.
In der verrauchten Enge des Büros mühten sich die beiden Männer mit einer scheinbar einfachen Frage ab: Was waren die Interessen der USA in Jugoslawien?
Jugoslawien war nicht mehr das liebste Kind amerikanischer Ostpolitik, dem mit grosszügigen Krediten geholfen wurde wie noch zu Titos Zeiten und selbst nach dem Tod des schlauen Diktators 1981. Damals honorierte der Westen Titos Bruch mit Moskau, doch nach dem Ende des Kalten Krieges schien diese Politik überholt.
«Eagleburger und ich», schreibt Warren Zimmermann in seinen Memoiren, «kamen überein, dass ich in Belgrad und den Republiken eine neue Botschaft verkünden sollte: Jugoslawien und der Balkan seien nach wie vor wichtig für die Interessen der USA, doch hätten sie nicht mehr dieselbe geopolitische Bedeutung wie früher.»
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Die Tragik von Eagleburger und Zimmermann lag darin, dass sie schwere Fehler gerade deshalb begingen, weil sie meinten, als Fachleute etwas von der Sache zu verstehen. Oder wie es der NSC-Angestellte Robert Hutchings formuliert: «Sie wandten strategische Rezepte von gestern auf die Probleme von morgen an.»
Ein anderer «alter Jugo-Hase» jedoch erfasste die Situation haargenau: George Kennan, der grosse alte Mann der US-Aussenpolitik, der von 1961 bis 1963 Botschafter in Jugoslawien war. Warren Zimmermann zitiert ihn mit der folgenden bemerkenswerten Fest- stellung aus dem Sommer 1989: «Heute, da der Kalte Krieg dem Ende zugeht, glauben die Leute, Jugoslawien kí¶nne keinen Schaden mehr anrichten. Ich halte das für einen Irrtum. Ich glaube, in Jugoslawien wird es zu Gewaltausbrüchen kommen, die die westlichen Länder und besonders die USA vor eines der grí¶ssten aussenpolitischen Probleme der nächsten Jahre stellen werden.»
Wie so oft in seiner langen Karriere spielte Kennan damit den Rufer in der Wüste. Denn er sagte dies zwei Jahre vor dem Ausbruch jenes Krieges, den die amerikanischen Politiker hätten verhindern kí¶nnen – wenn sie die Sache für wichtig genug gehalten hätten.
Statt dessen setzten die Amerikaner im aufkommenden Klima des Nationalismus in Jugoslawien auf Premierminister Ante Markovic, einen Geschäftsmann mit Modernisierungsideen, der davon träumte, aus Jugoslawien «ein westliches demokratisches Land mit kapitalistischem System» zu machen. Doch ohne Geld konnte er nicht viel ausrichten. «Vier Milliarden Dollar», meinte er zu Botschafter Zimmermann, «wären ein guter Anfang, um eine Reform zu unterstützen, die weiter gehen wird als jede andere in Osteuropa.»
«Ich schluckte heftig», schreibt Warren Zimmermann, «und sagte ihm, ich werde seine Bitte nach Washington weiterleiten. Ich kannte die Antwort. Die amerikanische Osteuropapolitik konzentrierte sich auf Polen und Ungarn, Länder, die auf dem Reformweg schneller vorankamen als Jugoslawien und ohne den Ballast nationalistischer Spaltungstendenzen. Jugoslawien würde als risikoreich eingeschätzt werden und entsprechend wenig Priorität haben.»
Verglichen mit den Europäern allerdings, betrieben die Amerikaner eine geradezu energische Jugoslawienpolitik. Bereits im Spätsommer 1990 hatten NSC-Stabsmitglieder die Europäer davon zu überzeugen versucht, die Jugoslawienkrise bei der nächsten Nato- oder KSZE-Konferenz zu erí¶rtern. Auf diese vernünftige Anfrage erhielten die Amerikaner Antworten, die Robert Hutchings, damals bei der KSZE zuständig für europäische Angelegenheiten, als «schockierend verantwortungslos» bezeichnete. Sie reichten von lauem Interesse seitens der í–sterreicher und Ungarn über herablassende Ermahnungen der Engländer und Deutschen, man solle «nicht überreagieren», bis zum direkten Vorwurf der Franzosen, die Amerikaner seien mal wieder dabei, die Situation «allzusehr zu dramatisieren». Waren die Amerikaner unwillig, die ní¶tigen Schritte zu unternehmen, um das Jugoslawienproblem anzugehen, gestanden sich die Europäer noch gar nicht ein, dass es ein solches Problem überhaupt gab.
Im September 1990 legte die CIA eine längere Einschätzung der Lage vor, worin – laut einem ungenannten Beamten, der von der «New York Times» zitiert wurde – unumwunden erklärt wurde, «das jugoslawische Experiment ist gescheitert, das Land bricht auseinander», was «von ethnischen Gewaltausbrüchen und Unruhen begleitet sein wird, die zu einem Bürgerkrieg führen kí¶nnten».
Aus der amerikanischen Botschaft in Belgrad war ähnliches zu hí¶ren. Zimmermann rapportierte, «ein Auseinanderbrechen Jugo-slawiens kann niemals friedlich erfolgen. Der Zusammenbruch des Landes würde mit Sicherheit zu extremen Gewaltausbrüchen, vielleicht sogar zu Krieg führen.»
Aus alledem zogen amerikanische Regierungsbeamte den Schluss, die einzig mí¶gliche Politik sei, unablässig auf eine Form von Einheit zu drängen. Und das taten sie noch lange, nachdem klar geworden war, dass der Bundesstaat keine Zukunft hatte. Zumindest eine «andere Mí¶glichkeit für die amerikanische Politik» wäre denkbar gewesen. Die USA hätten den Zusammenbruch zwar als unvermeidlich hinnehmen, gleichzeitig aber auch ihre unangefochtene Macht dafür verwenden kí¶nnen, den Frieden aufrechtzuerhalten – mit anderen Worten: deutlich zu machen, dass, was immer die jugoslawischen Republiken taten, die USA den Ausbruch eines offenen Kriegs in Europa nicht zulassen würden.
Um diesen Kurs einzuschlagen, hätten die Beamten der Bush-Administration aber erst einmal das wirkliche Gefahrenpotential der jugoslawischen Krise erkennen und begreifen müssen, dass die Verhinderung eines langen und blutigen Kriegs in Europa für die USA von hí¶chster Wichtigkeit war. Sie hätten ernsthaft verschiedene Lí¶sungsmí¶glichkeiten erforschen müssen. Und, was das Wichtigste war: Sie hätten, um die damit verbundene aktive Diplomatie betreiben zu kí¶nnen, militärische Gewalt nicht von vornherein aus-schliessen dürfen, sondern damit drohen müssen.
Doch letzteres, dies sollte schon bald klar werden, war der Punkt, an dem das Ganze scheiterte.
Am 21. Juni 1991, vier Tage vor der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens, warf sich Aussenminister James Baker in den Kampf, um die Einheit Jugoslawiens zu retten und den Ausbruch von Gewalt zu vermeiden. In einem elfstündigen Marathon besuchte er die Hauptstädte der jugoslawischen Teilrepubliken. Der damalige montenegrinische Staatschef Momir Bulatovic erinnert sich, dass, nachdem Baker und er sich gesetzt hatten, «der Aussenminister nicht wusste, wie er das Gespräch mit mir beginnen sollte, bis sie ihm sein Briefing-Buch brachten. Ich warf einen schnellen Blick hinein, und da standen nur zwei Zeilen über Montenegro.»
Baker war heftig und unnachgiebig, aber er liess nicht nur jede explizite Drohung unterbleiben, sondern machte ausserdem klar, dass die USA jede Anwendung von Gewalt ausschlossen.
«1990 sah Milosevic, dass er die amerikanischen Druckversuche problemlos ignorieren konnte, da Washington mit seiner strengen Rhetorik keine konkreten Drohungen verband und erst recht nicht handeln würde», schreibt Zimmermann. Unbestritten ist, dass zu diesem Zeitpunkt, als noch nicht wirklich Blut geflossen war, ohne die Mí¶glichkeit härteren Durchgreifens auf diplomatischem Wege nichts zu erreichen war. Doch «solche Zwänge wurden nicht in Betracht gezogen».
Die USA «warnten gleichermassen vor einseitigen Unabhängigkeitserklärungen wie vor Gewaltanwendung zum Zusammenhalten des Bundesstaates», doch, wie Robert Hutchings schreibt, «schien Amerika Gewaltanwendung durch die Serben zu sanktionieren, falls die Slowenen und Kroaten sich loslí¶sen sollten».
Im Flugzeug, das in Belgrad abhob, sass ein erschí¶pfter Aussenminister Baker und grübelte über die Jugoslawiensache, die ihn, wie er später seinem Präsidenten schrieb, «richtiggehend deprimierte. Ich finde es ehrlich gesagt einfacher, mit Shamir und Assad im Nahen Osten zu verhandeln, als bei einem Milosevic oder Tudjman auf dem Balkan etwas auszurichten.»
Vier Tage später, am 25. Juni 1991, erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit, wodurch Baker sich persí¶nlich beleidigt und «gekränkt fühlte, dass er so wenig Einfluss hatte».
Während die Jugoslawische Volksarmee (JVA) Slowenien nach elf Tagen der Unabhängigkeit überliess, kam es vom Sommer 1991 an in Kroatien zu heftigen Kämpfen zwischen Kroaten und der mehrheitlich serbischen JVA. Das erste, die ganze Welt aufrüttelnde Massaker des Krieges ereignete sich in Vukovar, als die ostkroatische Stadt nach dreimonatiger Belagerung der Willkür betrunkener serbischer Freischärler überlassen war, die im Schutz der JVA die Stadt besetzten. Im Westen ertí¶nte der erste hí¶rbare Aufschrei, als die Serben im Spätherbst 1991 Dubrovnik bombardierten, die alte, von der Unesco geschützte Stadt an der Adria. Verzweifelt darum bemüht, Dubrovnik zu retten, bat der kroatische Präsident Franjo Tudjman die USA inständig, die Sechste Flotte ins Adriatische Meer zu schicken. Sogar wenn die Schiffe nichts unternahmen, kí¶nnte ihr blosses Vorbeifahren die Serben abschrecken. Doch für Staats- sekretär Eagleburger war «kí¶nnte» das entscheidende Wort: «Sie «kí¶nnten» kapieren. Sie kí¶nnten auch nicht kapieren, und dann stehen wir vor der Frage, was wir als nächstes tun.»
Es war, als würde den USA, sowie sie den kleinsten Schritt unternähmen, die Kontrolle über ihre Politik zwangsläufig entgleiten. Obschon Bush wenige Monate zuvor erklärt hatte, das sogenannte Vietnamsyndrom sei unter dem Sand des Persischen Golfs «ein für allemal begraben», sehen wir es hier langsam von den Toten auf- erstehen. Die Folge dieses neuen Vietnamsyndroms war, dass für Jugoslawien nichts ausser einem totalen Engagement überhaupt je in Betracht gezogen werden konnte.
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All diese Fehleinschätzungen ergaben, wie Wayne Bert in «The Reluctant Superpower» («Die Weltmacht wider Willen») schreibt, ein sonderbares Paradox: «Eagleburger sah die Glaubwürdigkeit der USA dann in Frage gestellt, wenn Drohungen ausgesprochen wurden, ohne ihnen Nachachtung zu verschaffen.» Es sollte vier weitere Kriegsjahre, Hunderttausende von Toten und einen neuen, unerfahrenen US-Präsidenten brauchen, um deutlich zu machen, dass eben diese Untätigkeit, wie Sicherheitsberater Anthony Lake gesagt hatte, «den USA und ihrem Ansehen in der Welt enorm schadete».
Tatsächlich wäre dieser Zeitpunkt im Herbst 1991 der letzte gewesen, an dem die USA und Westeuropa den Krieg in Kroatien mit relativ wenig Aufwand hätten aufhalten und so den Ausbruch des viel heftigeren Bosnienkriegs im März 1992 hätten verhindern kí¶nnen. General John Galvin, der damalige Oberkommandierende der Alliierten Streitkräfte in Europa, hatte Alternativpläne ausgearbeitet, wonach die Flotte ins Adriatische Meer vorgestossen wäre und «diese serbischen Schiffe einfach weggefegt und die Artillerie gleich mit erledigt hätte. Ich glaube, wir hätten dieses Ziel mit geringen oder keinen Verlusten erreichen kí¶nnen.»
In Washington arbeiteten amerikanische Militärs zu dieser Zeit an Plänen für eine mí¶gliche Intervention in Vukovar und Dubrovnik, den belagerten Städten. Die dreissig Kilometer lange Kolonne von Panzerfahrzeugen, die sich von Serbien nach Kroatien bewegte, hätte sich für einen amerikanischen Luftangriff geradezu angeboten.
Colonel Karl Lowe von der militärischen Planungsabteilung beschäftigte sich damals auch mit Jugoslawien: «Erstens war die jugoslawische Marine ziemlich klein. Verglichen mit der United States Navy und der Schlagkraft, welche diese sehr rasch wo auch immer entwickeln konnte, hatte diese keine Chance gegen eine solche íœbermacht.
Ebensowenig hätten die serbischen Streitkräfte um Vukovar einem Luftangriff der USA standhalten kí¶nnen, vor allem wenn man diese Luftangriffe ein paar Tage lang auf die Kommando- und Kontrollapparaturen konzentriert und konzertiert geführt hätte. Freilich wären wahrscheinlich gar keine Flächenbombardierungen des Gebiets ní¶tig gewesen, hätten wir davor einmal kräftig demonstriert, das heisst: die Navy ins Adriatische Meer geschickt, Bodentruppen von Mitteleuropa nach Südosteuropa verlegt und die Luftwaffe ganz einfach über das Gebiet fliegen lassen als ganz deutliches Signal, dass wir eingreifen würden, wenn sie nicht zurückwichen.»
Warum sollte ein «ganz deutliches Signal» irgendwelche Wirkung zeitigen? «Vergessen Sie nicht», sagte Lowe, «das war drei Monate nach «Desert Storm». íœberall auf der Welt hatten die Leute «Desert Storm» gesehen und sich gesagt: «Das ist ein Wunder.» Eine der grí¶ssten Armeen der Welt war in nicht mehr als neunzig Tagen vernichtet worden.»
Die Amerikaner hatten die Verantwortung dafür, mit Ex-Jugoslawien fertig zu werden, an die Europäer weitergegeben, die sie in ihrer Post-Maastricht-Euphorie mit Freuden übernahmen. «Dies ist die Stunde Europas!» jubelte der luxemburgische Aussenminister Jacques Poos, dessen Worte ihn überleben sollten.
Die den Kontinent von Konferenztisch zu Konferenztisch durchreisenden Europäer wurden bald mit Verachtung gestraft. Fortan betrachteten die Kämpfenden auf dem Balkan die Diplomaten als blosse Instrumente, um Vorteile für sich herauszuschinden: hier ein bisschen auf Zeit zu spielen, dort eine Verteidigung aufzubauen.
In seiner brillanten Studie «The Serbs» («Die Serben») zitiert Tim Judah die Abschrift eines Telefongesprächs des serbischen Präsidenten Milosevic mit Serbenführer Karadzic; sie wurde der jugo- slawischen Presse im September 1991 zugespielt, als Milosevic, ohne mit der Wimper zu zucken, noch immer behauptete, er und die Jugoslawische Volksarmee (JVA) hätten mit dem nun aufkeimenden Krieg in Bosnien nichts zu tun.
Milosevic: Geh zu General Uzelac, dem Kommandanten der Volksarmee in Banja Luka, der wird dir alles sagen. Falls du Probleme hast, ruf mich an.
Karadzic: Ich habe Probleme in Kupres unten. Manche Serben dort wollen nicht gehorchen.
Milosevic: Das kriegen wir schon hin. Ruf einfach Uzelac an. Keine Angst, du kriegst alles. Wir sind die Stärksten.
Karadzic: Ja, ja.
Milosevic: Keine Angst. Solange es die Armee gibt, hat niemand eine Chance gegen uns.
Hätten die Amerikaner auf die von Colonel Lowe skizzierte Weise eingegriffen, wäre vielleicht nicht allen Kämpfen ein Ende gemacht, aber ihr Ausmass wäre drastisch reduziert worden. Noch während die JVA die kroatischen Verteidiger von Vukovar zermalmte, machte den Serben die Vorstellung einer Intervention von aussen solche Sorgen, dass Milosevic einen von der Armee auf Zagreb selbst geplanten Angriff ablehnte, aus Angst, wie ein hoher Mitarbeiter es formulierte, «wenn wir einen totalen Krieg gegen Kroatien führen, rufen die Deutschland, í–sterreich, Ungarn und weiss Gott wen noch zu Hilfe. Wir haben keine solchen Verbündeten.»
General Galvin kontaktierte Washington in Sachen Dubrovnik: «Ich rief Generalstabschef Colin Powell an und fragte, was los sei, und er sagte: «Daraus wird nichts.» Ich fragte warum, und er sagte: «Niemand unterstützt die Idee, dass wir uns da einmischen. Keiner will was unternehmen. Es wird nichts daraus.»»
Am 18. November fiel Vukovar, und die Welt konnte bei einem ersten Massaker dieses Kriegs zusehen: der Ermordung der Verwundeten im Stadtkrankenhaus. Bei den Europäern trat jetzt «Mitgefühl» an die Stelle der erfolglosen Diplomatie.
Ohne etwas zu unternehmen, sahen die amerikanischen Regierungsvertreter mit wachsendem Entsetzen zu und waren vermutlich dankbar, dass, wie Aussenminister Baker es nach seiner enttäuschenden Reise nach Belgrad ausgedrückt hatte, an diesem Kampf keiner ihrer Hunde beteiligt war.
In den folgenden Monaten sollte diese Position immer schwie- riger zu halten sein. Anfang August 1992 tauchten Bilder auf, wie man sie in Europa seit den vierziger Jahren nie mehr gesehen hatte: Bilder ausgemergelter Männer, die stumpf hinter Stachel- draht hervorblickten. Damals erfuhr die Welt von einem Lager namens Omarska. Drei Jahre lang – bis Srebrenica – kam ihm nichts an Grauen gleich. ·
Vorderseite US-Präsident Bill Clinton beim Golfspiel.
Rechts Präsident George Bush am 4. November 1992, einen Tag seiner Wahlniederlage gegen Bill Clinton.
Unten Die Schwarzweissaufnahmen dieses Kapitels entstanden im Sommer 1993 im muslimischen Teil von Bosnien.
Die Konfliktgebiete am Vorabend des Krieges in Jugoslawien. Die Grenzziehungen entsprechen den innerjugoslawischen Grenzen, die von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt wurden. Kosovo und die Vojvodina, ursprünglich autonome Regionen, wurden 1988 von Serbien anektiert.
Links Der serbische Präsident Slobodan Milosevic am 13. Dezember 1992, nachdem die EU Serbien als den Hauptverantwortlichen für den Krieg in Bosnien bezeichnet hat.
Rechts Die kroatische Stadt Dubrovnik unter Beschuss der Jugoslawischen Volksarmee, 9. bis 11. November 1991.
Links Der kroatische Präsident Franjo Tudjman an der Bosnienkonferenz 1993 in Genf.
Rechts Uno-Truppen werden im Frühling 1992 von der
Beví¶lkerung begrüsst.
2 Bush wusste mehr
In Bosnien wurden Menschen in serbischen Lagern grausam umgebracht. Wenn der Westen sofort reagiert hätte, wären einige der Gefangenen heute noch am Leben.
Am 5. August 1992 steht «Guardian»-Reporter Ed Vulliamy, der als erster Zeitungsmann zusammen mit einigen Berufskollegen in das Lager von Omarska hineingelassen wurde, in der sogenannten Kantine und sieht bestürzt, wie dreissig ausgemergelte Männer auf den Hof taumeln und im Sonnenlicht die Augen zusammenkneifen: «Ihre Kí¶pfe sind frisch rasiert, die Kleider hängen lose an ihren zu Skeletten abgemagerten Kí¶rpern. Manche von ihnen kí¶nnen sich kaum bewegen. In der Kantine stehen sie in gehorsamem, unterwürfigem Schweigen an, um eine magere, wässerige Portion Bohnen zu holen.»
Sie haben genau drei Minuten Zeit, um aus dem Schuppen zu laufen, für das Essen anzustehen, es hinunterzuschlingen und zurückzulaufen. «Wer das nicht schaffte, wurde geschlagen oder umgebracht», berichtete der Menschenrechtorganisation Helsinki-Watch ein als Mirsad zitierter Gefangener. «Der Eintopf, den man uns gab, war siedend heiss, wir alle hatten innere Verbrennungen. Das Innere meines Mundes lí¶ste sich in Fetzen.»
Vulliamy und seine Kollegen stehen da und betrachten die Menschenwesen, die ihre Rationen hinunterzuschlingen bemüht sind: «Die Knochen ihrer Ellbogen und Handgelenke stechen wie kantige Steine aus den bleistiftdünnen Stengeln hervor, die von ihren Armen übriggeblieben sind. Ihre Haut hat sich zersetzt, ihre Hautfarbe wirkt zerfressen. Sie sind am Leben, doch zerfallen, erniedrigt, gedemütigt und vollkommen unterwürfig; dennoch heften sich ihre riesigen hohlen Augen auf uns, als wären sie Dolche.»
Dieses Einanderanstarren ist eine aussergewí¶hnliche Konfrontation. Vulliamy und seine Kollegen berichten aus einem in den neunziger Jahren unseres Jahrhunderts betriebenen Konzentra- tionslager. Die ganze Zeit stapfen serbische Bewacher in Kampf- anzügen durch den Raum, sie tragen Kalaschnikows auf sich und um die Hüften lange, in Scheiden steckende Militärmesser, und die Augen über ihren Bärten blitzen bí¶se.
Vulliamy spricht einen jungen Mann an. «Er war ausgemergelt, seine Augen lagen tief, er verschlang seinen wässerigen Bohneneintopf wie ein ausgehungerter Hund, seine spindeldürren Hände zitterten.» Doch der Mann will nichts wissen. «Ich will keine Lügen erzählen», sagt er, «aber die Wahrheit kann ich nicht sagen.» Eine vielsagende í„usserung: Die meisten Gefangenen erweisen sich als «zu verängstigt, um zu sprechen, senken die Kí¶pfe und entschuldigen sich mit einem Blick auf die auf und ab gehenden Soldaten, oder dann starren sie einfach ausdruckslos vor sich hin, dumpf und vollkommen verängstigt».
Die Reporter verlangen, das Krankenhaus zu sehen, was barsch abgelehnt wird. Sie dürfen auch keinen Blick in das von den Gefangenen so genannte «Weisse Haus» werfen, wo gefoltert wird, oder in den rostfarbigen Metallschuppen, aus dem die Gefangenen, die Augen in der Augustsonne zukneifend, gekommen sind.
Später beschreiben íœberlebende den Schuppen als «riesigen Hühnerstall für Menschen, in den Tausende von Männern 24 Stunden täglich eingepfercht wurden, wo sie in ihrem eigenen Dreck lebten und in vielen Fällen erstickten». So dicht wurden die Gefangenen in der beklemmenden, stickigen Hitze zusammengedrängt, erzählt Sakib R. Vulliamy, dass es unmí¶glich war, sich hinzulegen, und manche im Stehen das Bewusstsein verloren und gegeneinander fielen. «Ich zählte 700, die ich um mich herum sehen konnte. Viele wurden wahnsinnig, und wenn das geschah, wurden die Zitternden und Schreienden herausgeholt und erschossen.»
Obschon die Wärter in Omarska und anderen Lagern viele Gefangene erschossen, war dies keineswegs ihre Lieblingsmethode zu tí¶ten. In Omarska war das Morden in der Regel ein emotionaler und persí¶nlicher Vorgang, da es auf dem simplen und intimen Akt des Erschlagens beruhte. «Sie schlugen uns mit Knüppeln, Schlägern, Schläuchen und Gewehrkolben», berichtete ein íœberlebender einem Helsinki-Watch-Interviewer. «Am liebsten mochten sie einen dicken Gummischlauch mit Metall an beiden Enden.» Sie seien, sagte ein anderer, «mit geflochtenen Kabeldrähten» geschlagen worden und mit «bleigefüllten» Rohren.
Ein íœberlebender, der von Uno-Untersuchungsbeamten befragt wurde, schätzte, oft seien «zwanzig bis vierzig Gefangene nachts umgebracht worden – «mit Messern, Hämmern oder durch Verbrennen». Er habe miterlebt, wie sieben Wärter einen Gefangenen umbrachten, indem sie ihn mit Benzin übergossen und mit einem Hammer auf den Kopf schlugen.» Alle Gefangenen wurden geschlagen, doch laut den Uno-Untersuchungsbeamten behandelten die Wärter in allen Lagern «Intellektuelle, Politiker, Polizisten und Reiche» besonders grausam. Als vier Wärter den Präsidenten der í¶rtlichen Kroatischen Demokratischen Union, Silvije Saric, zusammen mit Professor Puskar aus dem nahen Prijedor zu einem «Verhí¶r» holten, hí¶rte eine Gefangene «Schläge und Schreie. Manchmal klang es, als splitterte Holz, doch das waren Knochen, die zerschmettert wurden. Als die Tür aufging, brüllten sie uns an: «Ustasa-Schlampe, schau, was wir mit denen machen!» Ich sah zwei Haufen Blut und Fleisch in der Ecke. Auf die beiden Männer war so grauenhaft eingeschlagen worden, dass sie nicht mehr als menschliche Gestalten zu erkennen waren.»
Als die Gesichter hinter Stacheldraht im Fernsehen gezeigt wurden, reagierten die Beamten der Bush-Regierung instinktiv: Sie bestritten, etwas von den Lagern gewusst zu haben. Oder vielmehr: Zuerst sagten sie, sie wüssten Bescheid, und am nächsten Tag, sie wüssten von nichts.
Am 3. August 1992, dem Tag, nachdem in der New Yorker Zeitung «Newsday» die erste drastische Omarska-Reportage des Journalisten Roy Gutman erschienen war, stellte sich Richard Boucher, der stellvertretende Sprecher des amerikanischen Aussenministeriums, den Reportern und sagte, die Regierung habe nicht nur gewusst, «dass die Serben von ihnen sogenannte Strafanstalten» unterhielten, sondern auch, dass es dort zu «Gewalttaten, Folter und Mord» komme. Zornige Fragen folgten: Wenn Präsident George Bush von diesen Lagern gewusst habe, warum hatte er sie dann nicht auch í¶ffentlich angeprangert? Warum hatte er nicht auf der Freilassung der Gefangenen bestanden oder darauf, dass dem Roten Kreuz freier Zugang zu allen Lagern gestattet werde? Und warum hatte der Präsident nicht wenigstens enthüllt, dass es solche Lager gab?
Am nächsten Morgen sagte Thomas Niles, stellvertretender Aussenminister für europäische Angelegenheiten, im Ausschuss für Auswärtiges des Repräsentantenhauses: «Wir haben bis jetzt keine erhärteten Informationen, die das Vorhandensein solcher Lager bestätigen würden.» Weniger als 24 Stunden zuvor hatten Bush-Regierungsvertreter noch gesagt, sie seien über die Greuel in Omarska im Bild.
Die Bush-Leute, die fast zwei Jahre zuvor zum Schluss gekommen waren, drastische Massnahmen seien ein zu grosses Risiko, befürchteten nun, der von solch «telegenen», aber ihrer Ansicht nach kurzlebigen Greueln vorübergehend angeheizte Volkszorn kí¶nnte sie zu genau solchen Massnahmen drängen. Andernfalls würde das aufgewühlte Volk sie knapp drei Monate vor den Wah- len politisch bestrafen für ihr Nichtstun.
Am 6. August, dem Tag, als die vom britischen Fernsehsender ITN aufgenommenen Bilder ausgemergelter Gefangener auf der ganzen Welt ausgestrahlt wurden, verlangte Präsident Bush endlich, dass internationale Beobachter Zugang zu den Lagern erhielten, und Gouverneur Clinton, unterdessen der demokratische Präsidentschaftskandidat, forderte die Bush-Regierung dazu auf, die Nato zur Entsendung von Jagdbombern zu drängen, um die muslimischen Bosnier vor der «auf ihrer ethnischen Herkunft beruhenden, gezielten und systematischen Ausrottung» zu retten. Am nächsten Tag reagierte Bush in seinem Ferienort Kennebunkport auf den Fragenhagel trotzig: «Die politischen Druckversuche sind mir egal. Bevor ein einziger Soldat in die Schlacht geschickt wird, will ich wissen, wie dieser Mann da wieder herauskommt. Wir dürfen uns in keinen Guerillakrieg verstricken lassen. Das haben wir schon mal durchgemacht.»
Der ehemalige Botschafter in Jugoslawien, Warren Zimmermann, berichtet: Als in jenem August Teile der Regierung die Mí¶glichkeit einer «Luftoperation» zur Rettung der Opfer dieser Lager erwähnten und Aussenminister Baker und Brent Scrowcroft, der Berater für Fragen nationaler Sicherheit, echtes Interesse daran zeigten, «gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass der Präsident daran im geringsten interessiert war, und so wurde nichts getan».
Ende September, als die von den Konzentrationslagerbildern ausgelí¶ste Debatte ihren Hí¶hepunkt erreichte, liess General Colin Powell, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs, einen «New York Times»-Reporter zu sich ins Büro kommen und gab ein bemerkenswertes Interview. Die Zeitung brachte es auf der Titelseite mit der íœberschrift «Powell sagt klar nein zu begrenztem Einsatz in Bosnien». Powell erklärte: «Sobald Politiker mir sagen, etwas sei begrenzt, bedeutet das, es ist ihnen egal, ob man ein Resultat erzielt oder nicht. Sobald die von «chirurgischen Eingriffen» reden, renne ich in den nächsten Bunker.»
Es ist also nicht weiter überraschend, dass die erste Reaktion des Aussenministeriums auf die Gesichter aus Omarska die ehrliche gewesen war. Die amerikanische Regierung hatte selbstverständlich, lange bevor die Bilder und Reportagen verí¶ffentlicht wurden, von den serbischen Lagern gewusst. Die einzige Frage war: Seit wann genau? Wie John Fox, ein Beamter des politischen Planungsbüros des Aussenministeriums, ABC News mitteilte: «Ab Juni, ganz bestimmt ab Juli 1992, also lange vor den Enthüllungen durch die Medien, hatte die US-Regierung glaubhafte und verifizierte Berichte über die Lager in ihrem Besitz.» Die Empí¶rung, die eine solche Nachricht ausgelí¶st hätte, war absehbar; aber die Regierung war nach wie vor fest entschlossen, nichts zu tun.
Bereits Anfang April 1992, eine Woche nachdem Offiziere der neu getauften bosnisch-serbischen Armee ihren Eroberungsfeldzug in Bosnien begonnen hatten, erhielten Regierungsbeamte in Washington Berichte von Greueln wie Massenhinrichtungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen.
Die 80 000 Mann starke bosnisch-serbische Armee, die voll ausgerüstet aus der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) hervorgegangen war, eroberte in knapp sechs Wochen 60 Prozent des bosnischen Territoriums, und Beamte des amerikanischen Aussen- ministeriums trugen Aussagen über zunehmend erschreckende und grausige Ausschreitungen zusammen. Jon Western, der sich damals im Aussenministerium mit den Menschenrechten beschäftigte, erinnert sich an den Bericht über eine junge Frau, die von paramilitärischen Einheiten der Serben mehrmals vergewaltigt wurde und verblutete, während ihre Eltern daran gehindert wurden, ihr zu helfen.
Konnten Western und seine Kollegen solche Geschichten zu-erst gar nicht glauben, wurde ihnen bald klar, dass sie nicht nur stimmten, sondern dass die Grausamkeit System hatte. Sie begriffen, dass – obschon die serbischen Soldaten und vor allem die mit «Aufräumarbeiten» betrauten «paramilitärischen» Truppen ihre sadistischen Untaten oft unter Alkoholeinfluss begingen – deren Offiziere den Terror überlegt und systematisch einsetzten. Die Serben kämpften nicht nur, um Territorien zu erobern, sondern alle Spuren ihrer muslimischen oder kroatischen Feinde zu «tilgen» oder, wie die berüchtigte serbische Formulierung lautete, das, was sie als «ihr» Land betrachteten, «ethnisch zu säubern».
Vor der bosnischen Unabhängigkeitserklärung, der Anfang April 1992 die Anerkennung durch die Uno folgte, hatte Karadzic, der selbsternannte Führer der bosnischen Serben, dem bosnischen Staatschef Alija Izetbegovic in einer berühmten Parlamentsrede entgegengeschleudert: «Ich warne euch, ihr werdet Bosnien in die Hí¶lle reissen. Ihr Muslime seid für einen Krieg nicht gerüstet – eure Ausrottung steht kurz bevor.»
Er hatte recht. Als Cyrus Vance, der Uno-Unterhändler, am 2. Januar 1992 den Waffenstillstand in Kroatien zustande brachte, machten sich Tausende serbischer Soldaten in ihren Panzerfahrzeugen auf nach Bosnien. Am 5. Mai wurden alle serbischen Soldaten und Offiziere der JVA, die aus Bosnien stammten, samt ihrer Ausrüstung aus der Hauptstreitkraft herausgelí¶st und offiziell zu Angehí¶rigen einer «bosnisch-serbischen Armee» von voll ausgebildeten 80 000 Mann. Den Protesten der bosnischen Regierung in Sarajevo zum Trotz bezogen die Serben überall im Land strategische Positionen und bereiteten sich eindeutig auf einen Krieg vor.
Jerko Doko, der damalige bosnische Verteidigungsminister, sagte in Den Haag aus: «Man konnte es daran sehen, wie die Einheiten sich verteilten; die Strassen wurden von der JVA kontrolliert; Artillerieverbände gingen auf den Hügeln um alle wichtigen Städte von Bosnien-Herzegowina in Stellung; sie kollaborierten mit den Extremisten der bosnischen Serbisch-Demokratischen Partei, bewaffneten sie und unterstützten deren Bewaffnung.»
In seinem Buch «Genocide in Bosnia» («Ví¶lkermord in Bos- nien») schreibt Norman Cigar, dass lange vor dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens «einflussreiche Figuren in Serbien gezielt das Vorurteil verbreiteten, Muslime seien fremd, minderwertig und eine Bedrohung all dessen, was den Serben teuer sei». Indem man durch solche Propaganda «die ganze muslimische Gemeinschaft isolierte», schreibt Cigar, konnte man dafür sorgen, «dass jede Massnahme, die zur Verfolgung der politischen Ziele Belgrads gegen die Muslime unternommen wurde, als legitim erschien und von der Beví¶lkerung unterstützt wurde».
Solche «Massnahmen» waren von langer Hand vorbereitet. Ende der achtziger Jahre begann sich eine kleine Gruppe von Offizieren, darunter der damalige Oberst Ratko Mladic, die sich als «militärische Linie» bezeichneten, heimlich mit Angehí¶rigen der serbischen Geheimpolizei zu treffen.
1990 oder vielleicht etwas früher, wann genau, ist umstritten, hatten diese Offiziere den sogenannten RAM-Plan fertig, worin beschrieben wurde, wie die «serbischen Länder» in Kroatien und Bosnien zu erobern wären. Der Plan sollte die Grenzen, also den Rahmen, für die neuen serbisch dominierten Gebiete festlegen. In Den Haag beschrieb ihn Jerko Dorko folgendermassen: «Im wesentlichen ging es darum, ein Grossserbien zu schaffen. Im RAM war Karlovac als westlichster Punkt vorgesehen, was wir später in der Realität bestätigt sahen, als die JVA sich aus Slowenien und teilweise aus Kroatien auf diese Position zurückzog.»
In ihrem Plan beschrieben die Offiziere, wie Artillerie, Muni- tion und weiteres Militärmaterial an strategischen Positionen in Kroatien und dann in Bosnien gelagert und wie í¶rtliche serbische Aktivisten mit Hilfe der Geheimpolizei bewaffnet und ausgebildet werden sollten. Dadurch sollten in den Städten der kroatischen Krajina und überall in Bosnien «Schatten»-Polizeitruppen und paramilitärische Einheiten geschaffen werden. Und bereits im Juli 1990 begann die Armee, dies in die Tat umzusetzen.
Die Führer der bosnisch-serbischen Armee konnten sich auf die Unterstützung durch diese «parallele Machtstruktur» ergebener, oft fanatischer und wohlbewaffneter Männer verlassen, als ihre Truppen den Eroberungsfeldzug gegen Bosnien führten.
Im Frühling und Sommer 1992 wurde Stadt um Stadt von der bosnisch-serbischen Armee, ihren Kommandotrupps und paramilitärischen Einheiten nach immer demselben Muster angegriffen. Es war klar, dass diese Eroberungs- und Säuberungsaktionen präzis und zentral geplant waren.
Laut Vladimir Srebov, einem ehemaligen Führer der Serbisch-Demokratischen Partei, der den RAM-Plan gelesen hat, hatten die Offiziere gigantische «ethnische Säuberungen» vorgesehen mit dem Ziel, «Bosnien wirtschaftlich zu zerstí¶ren und die muslimische Beví¶lkerung vollkommen auszurotten». Wie Srebov spä- ter einem Interviewer erzählte, sah der Plan «eine Aufteilung Bosniens in zwei Interessensphären vor im Hinblick auf ein Gross- serbien und ein Grosskroatien. Für die Muslime war eine «End- lí¶sung» vorgesehen: Mehr als 50 Prozent sollten umgebracht, ein kleinerer Teil zur Orthodoxie bekehrt werden, und einem noch kleineren Teil, Leuten mit Geld, sollte erlaubt werden, sich freizukaufen und nach der Türkei auszureisen. Das Ziel war, Bosnien-Herzegowina vollkommen von der muslimischen Nation zu säubern.»
Als serbische Kanoniere grí¶ssere und kleinere Städte in Bos- nien mit Granaten zu beschiessen begannen, wurde das Muster der «Säuberungsaktionen» sofort deutlich. Armee-Einheiten gingen um eine Stadt herum in Stellung und errichteten Strassensperren. An alle serbischen Bewohner erging die Einladung, die Stadt zu verlassen. Dann machten sich die Artilleristen ans Werk und beschossen die Stadt mit schweren und leichten Geschützen. Schossen die Verteidiger zurück, konnte die serbische Beschiessung viele Tage dauern, wodurch die Stadt zerstí¶rt wurde und die meisten Bewohner umkamen. Gab es keinen Widerstand, hí¶rten die schweren Geschütze nach ein, zwei Tagen auf. Galt eine Stadt als genügend «weichgeklopft», wurde sie von den paramilitärischen Stosstruppen gestürmt, und der Terror begann.
Wie die Lageraufseher, denen sie wann immer mí¶glich einen Besuch abstatteten, um an Folterungen teilzunehmen, hatten die paramilitärischen Truppen eine einzige Aufgabe: Terror auszu-üben. War eine Stadt vom Artilleriefeuer besiegt worden, kamen die Paramilitärs und «räumten auf».
Oft kamen die paramilitärischen Truppen mit Listen einfluss-reicher Bürger, die umgebracht werden sollten, in eine neu eroberte Stadt; genausooft erschossen, erstachen, verstümmelten oder vergewaltigten sie auch einfach alle Bewohnerinnen und Bewohner, die sie fanden. Diese Killer, von denen viele ehemalige Verbrecher waren, die man aus den Gefängnissen entlassen hatte, damit sie sich an der Front «rehabilitieren und bewähren» konnten, wurden angetrieben von virulentem Nationalismus, blankem Sadismus und Gier. Das Plündern muslimischer Häuser machte viele von ihnen reich.
Manche dieser sadistischen, ausschweifend lebenden Anführer der paramilitärischen Streitkräfte waren farbige Erscheinungen und galten in Serbien als Berühmtheiten. Zeljko Raznatovic zum Beispiel, der Arkan genannt wurde und dessen serbische Freiwilligengarde, die weitaus stärkste und am besten bewaffnete paramilitärische Truppe, überall als Arkans Tiger bekannt war, war ein berühmter Verbrecher: ein berufsmässiger Bankräuber, von dem es hiess, er werde in mehreren europäischen Ländern gesucht und sei in einigen davon aus dem Gefängnis ausgebrochen.
Arkans Tiger und andere paramilitärische Truppen, Vojislav Seseljs Tschetniks, die Weissen Adler und die Gelben Ameisen, deren Name von ihren Fähigkeiten als Plünderer zeugte, waren Kreaturen des serbischen Staats. Milos Vasic, ein Militärexperte, schreibt: «Sie waren alle mit dem Einverständnis von Milosevic’ Geheimpolizei organisiert worden und wurden von deren Offizieren bewaffnet, kommandiert und kontrolliert.»
In ihrem Buch «Rape Warfare» («Vergewaltigungs-Krieg») zitiert Beverly Allens ein Dokument, «eine Variation des RAM-Plans, die von den Spezialeinheiten der Armee inklusive Experten für psychologische Kriegführung verfasst wurde», worin für die Taktik der ethnischen Säuberungen eine soziologische Grundlage geliefert wird, ob der einen das kalte Grauen packt:
«Unsere Analyse des Verhaltens der muslimischen Gemein-schaften zeigt, dass Moral, Wille und Kampfgeist ihrer Gruppen sich nur dadurch untergraben lassen, dass wir mit unseren Aktionen auf den Punkt zielen, wo die religií¶se und die soziale Struktur am verletzbarsten ist. Die Rede ist von den Frauen, vor allem heranwachsenden, und von den Kindern. Entschlossene Ein- griffe aufgrund dieser gesellschaftlichen Befunde würden für Verwirrung sorgen und zunächst Angst und dann Panik verbrei- ten, was hí¶chstwahrscheinlich später einen Rückzug aus den von kriegerischen Handlungen äusserst schwer betroffenen Gebieten zur Folge hätte.»
Aus diesem Grund bezeichnet Vasic die paramilitärischen Streitkräfte als «psychologische Waffe für «ethnische Säuberungen»». Die Männer wussten, dass sie brutal und in ihren Grausamkeiten erfindungsreich genug sein mussten, damit Geschichten über ihre Terrorakte sich so schnell verbreiteten, dass, wie Vasic sagt, im nächsten Dorf «niemand ihr Kommen abwar- tete». Er schätzt, dass die Paramilitärischen im Durchschnitt «zu 80 Prozent aus gewí¶hnlichen Verbrechern und zu 20 Prozent aus fanatischen Nationalisten» bestanden.
José Maria Mendiluce, ein Beamter des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNCHR), kam am 9. April zufällig durch Zvornik und sah, wie die Paramilitärischen «aufräumten»: «Soldaten schmissen tote Frauen, Kinder und Greise auf Lastwagen. Ich sah vier oder fünf Lastwagen voller Leichen. In einer Kurve geriet mein Jeep ob des Bluts ins Schleudern.»
Uno-Untersuchungsbeamte sagen, der serbische Nationalist Seselj habe seine Tschetniks in einem Hotel von Zvornik zusammengerufen und ihnen eine Liste muslimischer Stadtbewohner vorgelesen, die umgebracht werden sollten. «Milosevic hatte alles unter Kontrolle», sagte Seselj später bei einem Interview, «und die Operation war von Belgrad aus geplant.»
Manchmal erfolgten die Säuberungen über eine längere Zeit. Anfang 1992 brachten Mitglieder einer paramilitärischen Gruppe den Fernsehsender von Prijedor unter ihre Kontrolle und sorgten so dafür, dass in der Stadt nur Sendungen aus Belgrad empfangen werden konnten. Bald trafen Truppen der jugoslawischen Volksarmee in der Gegend von Prijedor ein. Die JVA-Offiziere verlangten von den Stadtvätern, dass sie ihren Truppen um die Stadt herum an Orten Stellungen zu beziehen erlaubten, von wo aus sie alle Ein- und Ausfallstrassen des Bezirks kontrollieren konnten.
«Das war ein Ultimatum. Die rechtmässigen Behí¶rden wurden zur Besichtigung zweier kroatischer Dí¶rfer eingeladen, die zerstí¶rt worden und seither nicht mehr bewohnt waren. Die Botschaft war: Würde auf das Ultimatum nicht eingegangen, so drohte Prijedor das gleiche Schicksal. Das Ultimatum wurde akzeptiert.»
Dadurch, dass bosnisch-serbische Truppen alle Strassen bewachten, wurde Prijedor isoliert. Die Serben stellten jeglichen Busbetrieb ein. Sie verlangten selbst von Leuten, die das nächste Dorf besuchen wollten, einen Passierschein. Sie verfügten eine Ausgangssperre. Oft funktionierten die Telefone nicht mehr.
Am 30. April brachten die Serben von Prijedor die Stadt mit einem raschen, gutgeplanten Staatsstreich unter Kontrolle. Uno-Untersuchungsberichten zufolge hatten die Serben die Macht-übernahme mindestens sechs Monate lang geplant, sich mit heimlich von der JVA gelieferten Waffen ausgerüstet und eigene geheime «Parallelbehí¶rden» aufgebaut, inklusive einer Schattenpolizei mit einem eigenen Geheimdienst.
Nicht-Serben verloren ihre Stellen. Polizisten und Beamte wurden als erste entlassen. Die von den Serben seit langem vorbereiteten Schattenbehí¶rden übernahmen die leeren Büros.
Serbische Polizisten patrouillierten nun auf den Strassen, und Nicht-Serben mussten zu gewissen Zeiten eine weisse Armbinde tragen. Am 30. Mai 1992 kam es in Prijedor zu einem verzweifelten Aufstand der Muslime und Kroaten, die noch in der Stadt geblieben waren. Die Rache der siegreichen Serben war furchtbar. Laut dem Uno-Bericht wurden Hunderte, wenn nicht Tausende von Nicht-Serben getí¶tet, oft nach grausamen Misshandlungen. Die überlebenden Kinder und Frauen wurden vertrieben, die Männer kamen in die Lager nach Omarska und Keraterm.
In Washington wurde beobachtet und registriert. Ende Juni, einen Monat nach der serbischen Machtübernahme in Prijedor, lag auf dem Pult von Aussenminister James Baker ein erster Bericht über die serbischen Todeslager. «Ende Juni hatten wir genügend Informationen über die Lager», sagte Jon Western, der damals im Aussenministerium die Menschenrechtssituation in Bosnien analysierte: «Wir schickten die Berichte unseren Vorgesetzten, aber es passierte nichts. Wir erhielten nicht einmal eine Antwort. Erst als sich die Presse einschaltete, regte sich etwas.» Als zwei Monate später Präsident Bush die Inspektion der Lager verlangte, wurden sie geschlossen. Hätte Bush früher reagiert, wären heute einige Gefangene noch am Leben.
Kurz vor den Präsidentschaftswahlen im November 1992 kam Generalstabschef Colin Powell seinem Präsidenten, dessen passive Bosnienpolitik unter Beschuss geraten war, noch einmal zu Hilfe. Ein militärisches Engagement kí¶nne sehr schnell zur Eskalation führen, warnte Powell und drohte mit dem Gespenst von Vietnam. Doch als sich gegen Ende 1992 in Somalia die Gelegenheit bot, mit einem billigen Truppeneinsatz von Bosnien abzulenken, zí¶gerte Powell nicht lange. Unter der Bedingung allerdings, sagte er, «dass wir in Bosnien nicht das gleiche versuchen». ·
Vorderseite Gefangener im serbisch-bosnischen Lager von Manjaca, fotografiert am 9. August 1992.
Rechts Im Lager Manjaca waren vom Mai bis August 1992 3500 Menschen eingesperrt.
Rechts Junge in Zentralbosnien, Sommer 1993.
Links Radovan Karadzic, Führer der bosnischen Serben, Politstar an der Londoner Jugoslawienkonferenz, die nach der Aufdeckung der Lager einberufen wurde.
Rechts Zeljko Raznatovic, genannt Arkan, Chef der Tiger, einer wegen ihrer Grausamkeit berüchtigten serbischen Freiwilligentruppe.
Oben Die 400 Teilnehmer an der Londoner Konferenz kamen überein, den Jugoslawienkonflikt zu beenden.
Unten Ein Opfer des Massakers von Ahmici in Zentralbosnien wird abtransportiert. Ahmici wurde 1993 von Kroaten angegriffen (links). Anstehen für Wasser in Sarajevo, Sommer 1993.
Slobodan Milosevic an der Londoner Konferenz, August 1992. Ende des Jahres 1992 stand Milosevic auf der amerikanischen Liste der Kriegsverbrecher. Links von ihm der jugoslawische Aussenminister
3 Clintons Rhetorik
Während die Europäer mit den Serben verhandelten, war in Washington ein Präsident an die Macht gekommen, der den Bosniern verhiess: «Ethnische Säuberungen» werden nicht toleriert.
Im Sommer 1992 tingelte der demokratische Präsidentschaftskandidat Bill Clinton durchs Land und warf Präsident Bush vor, er setze dem Grauen in Bosnien kein Ende: «Ich würde den Serben als erstes die Luftwaffe vorbeischicken.»
Doch die Bush-Leute verteidigten ihre Tatenlosigkeit mit harschen Worten: «Ich habe es schon 38 000mal gesagt», verkündete der stellvertretende Aussenminister Lawrence Eagleburger, «diese Tragí¶die lässt sich nicht von aussen beenden, und es wäre verdammt noch mal Zeit, dass das alle kapieren. Solange die Bosnier, Serben und Kroaten nicht aufhí¶ren, einander gegenseitig umzubringen, kann die Aussenwelt überhaupt nichts tun.»
Während Präsident Bush und seine Spitzenleute es vorzogen, sich vom Konflikt fernzuhalten und, wie ein jüngerer Berater es formulierte, abzuwarten, «bis er ausgebrannt» war, hatte die í–ffentlichkeit, die sporadisch von blutigen Bildern empí¶rt worden war, die Regierungsleute immer mal wieder gezwungen, etwas zu unternehmen. Dadurch war ein Gewirr von einander widersprechen- den politischen Haltungen entstanden. Ihren ersten Hí¶hepunkt erreichten sie, als die Serben im Mai 1992 eine Granate in eine Gruppe von Menschen in Sarajevo schossen, die für Brot anstand. Der Abscheu der Amerikaner angesichts dieser Toten und Verwunde- ten zwang Präsident Bush dazu, wirtschaftliche Sanktionen gegen Serbien zu unterstützen.
Im September 1991, als noch der Krieg in Kroatien tobte, hatte Bush ein Uno-Waffenembargo für Ex-Jugoslawien befürwortet. Damit verhalf er den Serben zu einem ungeheuren Vorteil, da die Jugoslawische Volksarmee (JVA) über Unmengen von Panzern, Geschützen und Kampfflugzeugen verfügte und eine hochentwickelte Rüstungsindustrie kontrollierte. Nachdem die Europäer und Amerikaner im April 1992 Bosnien anerkannt hatten, forderten sie, dass das Embargo auch für den neuen Staat gelte.
Als Präsidentschaftskandidat Clinton damit begann, diese Politik anzuprangern, hatten sich schon viele von Bushs Regierungs- beamten mittleren und niedrigen Rangs gegen sie gewandt. «Er hat unsere Argumente geklaut», sagte John Fox, der unter Bush im politischen Planungsbüro des Aussenministeriums arbeitete.
Wahlkampfhelfer von Clinton machten deutlich, dass ihre Sympathien den bosnischen Muslimen galten, und der designierte Vizepräsident Al Gore sowie andere voraussichtliche Regierungsvertreter nahmen Gespräche mit bosnischen Politikern auf. Es sah eindeutig so aus, als ob Präsident Clinton, die grosse Macht der USA einsetzen wollte, um auf dem Balkan für Gerechtigkeit zu sorgen.
«Gerechtigkeit» war das entscheidende Wort, denn seit langem war klar, dass in Bosnien, dessen Territorium zu drei Vierteln in die Hände der bosnischen Serben gefallen war, «Gerechtigkeit» im diametralen Gegensatz zu einem anderen entscheidenden Wort stand, nämlich «Frieden».
Der Bankier und Schriftsteller Jean E. Manas formulierte das Problem unumwunden so: «Obschon viele, die von aussen eingriffen, in Ex-Jugoslawien Frieden und Gerechtigkeit erreichen wollten, blickten sie selten der Tatsache ins Auge, dass, sieht man genauer hin, zwischen diesen beiden Idealen eine grundsätzliche Spannung besteht. Das Streben nach Gerechtigkeit hat eine Verlängerung der Feindseligkeiten zur Folge, wohingegen das Streben nach Frieden bedingt, sich mit manchen Ungerechtigkeiten abzufinden.»
Um in Bosnien wieder gerechte Verhältnisse zu schaffen, das hiess, muslimisches Land und muslimische Häuser ihren rechtmässigen Besitzern zurückzuerstatten, so dass die «ethnischen Säuberungen» nicht bestehen blieben, hätte Bill Clinton gewillt sein müssen, zumindest einige amerikanische Truppen loszuschicken. Dies wiederum hätte erfordert, dass er sein ganzes politisches Geschick darauf verwendet hätte, die Amerikaner in dieser Sache auf seine Seite zu bekommen.
Dazu fehlte ihm der Mut; schliesslich war das nicht sein Krieg.
Der erste Versuch, «Frieden» zu stiften, statt für «Gerechtigkeit» zu sorgen, wurde der neuen amerikanischen Regierung in Form des Vance-Owen-Plans vorgelegt. Dieser komplizierte und ingenií¶se Vorschlag wollte Bosnien in zehn ethnisch kontrollierte «Kantone» aufteilen; je drei für die Serben, die Kroaten und die Muslime und Sarajevo als gemeinsame Hauptstadt. Clintons Regierungsvertreter lehnten den Plan nicht direkt ab, doch sie sprachen von ihm mit einer gewissen Verachtung, die keinen Zweifel daran liess, dass sie glaubten, etwas Besseres austüfteln zu kí¶nnen.
Dies war das erste dramatische Anzeichen für das, was James Gow in seiner ausgezeichneten Studie «The Triumph of the Lack of Will» («Triumph des fehlenden Willens») als Tendenz der Clinton-Administration bezeichnet, nämlich: In Sachen Bosnien «Prinzipien zu verkünden, aber in der Praxis dann Ausflüchte zu machen und der Politik und den Plänen anderer den Wind aus den Segeln zu nehmen».
Clinton war mittlerweile mit anderem beschäftigt, als mit Wahlkampfversprechen. Während seine Administration von Krise zu Krise schlingerte, wurde klar, dass Bosnien für den Präsidenten das kleinste Problem war.
Srebrenica, eine alte Minenstadt an der serbischen Grenze, war seit jeher eine der wohlhabendsten Städte in Ostbosnien gewesen. Im Februar 1993 überquoll die Stadt von muslimischen Vertriebenen. Ein junger Polizist namens Nasr Oric hatte die Aufgabe übernommen, die Verteidigung Srebrenicas zu organisieren. Oric hatte aus zerlumpten Flüchtlingen eine schlagkräftige Armee aufgebaut und führte gegen die serbischen Kleinstädte im Umland einen erbarmungslos grausamen Kleinkrieg. Doch bis im Frühjahr 1993 hatte sich der Würgegriff des waffenmässig überlegenen serbischen General Mladic um Srebrenica gelegt.
Wenige Wochen vor der serbischen Offensive in Ostbosnien hatte Bill Clinton in seiner Antrittsrede erklärt, er würde zur Waffen- gewalt greifen, «falls der Wille und das Gewissen der internationalen Gemeinschaft missachtet werden». Diese Missachtung wurde ihm nun täglich vorgeführt, besonders nachdem Tony Birtley, ein Reporter der Fernsehkette ABC, sich an Bord eines bosnischen Helikopters mit einer kleinen Videokamera in die Stadt Srebrenica hineingeschmuggelt hatte. Birtleys Reportagen zeigten die mittelalterlichen Verhältnisse in der Stadt: in Lumpen gekleidete, auf den Strassen lebende Menschen, Abwasser trinkende Kinder.
Srebrenica konfrontierte Clinton ganz direkt mit dem Widerspruch zwischen seiner idealistischen probosnischen Rhetorik und seinem pragmatischen Widerwillen dagegen, sich als frischgewählter Präsident auf einen komplizierten Krieg einzulassen. Schliesslich zwangen ihn die Bosnier zu handeln: Am 12. Februar 1993 verkündeten Regierungsvertreter in Sarajevo, die Hauptstadt nehme keine weiteren Hilfsgüter mehr an, solange Srebrenica durch die Serben von allen Hilfsgütern abgeschnitten sei. Die Absicht dieser scheinbar perversen Entscheidung war, die westlichen Nationen und den noch unerprobten Clinton, von dem sich die Bosnier eine Intervention so sehr erhofft hatten, endlich zu drastischen Mass- nahmen gegen die Serben zu zwingen.
Die Entscheidung der Bosnier war nichts weiter als ein letzter Versuch, das einzige ihnen zur Verfügung stehende Druckmittel anzuwenden: ihr Leiden. Die westlichen Länder hatten im Juni 1992 damit begonnen, Nahrungsmittel an Bosnien zu liefern, um den politischen Druck in ihren jeweiligen Heimatstaaten zu reduzieren. Längst forderte die dortige í–ffentlichkeit, den Schlächtereien auf dem Balkan ein Ende zu machen – mit anderen Worten: dass sie militärisch gegen die Serben vorgingen. Indem die Bosnier jetzt die Welt darauf aufmerksam machten, dass diese Nahrungsmittel nicht durchkamen und somit «ethnische Säuberungen durch den Hungertod» stattfanden, hofften sie, die westlichen Länder zu härterem Durchgreifen zu bewegen, wenn mí¶glich mit militärischen Mitteln.
Die Nahrungsmitteltransporte komplizierten die Verhältnisse auch auf anderer Ebene. Laut einem Uno-Vertreter führten die Bosnier ihre militärischen Offensiven gegen die Serben jeweils dann, wenn Hilfsgütertransporte tatsächlich durchgekommen waren. Die Muslime von Srebrenica zum Beispiel hätten ihre Offensive gegen die serbisch dominierte Kleinstadt Bratunac im November 1992 geführt, zwei Wochen nach der ersten erfolgreichen Hilfsgüterlieferung nach Srebrenica. «Dadurch geriet die Uno gegenüber den Serben unter Druck. Es entstand der Eindruck, die Uno unterstütze die die Bosnier. Was dazu führte, dass die Serben weitere Nahrungsmitteltransporte verunmí¶glichten. Wodurch der Druck auf die USA und andere Nationen, entschiedener einzugreifen, nochmals zunahm», sagte der Uno-Mann.
Die Bosnier versuchten mit dem Elend der eingekesselten muslimischen Städte ein Eingreifen der Uno und der westlichen Länder zu erzwingen. Dieses Vorgehen empfanden Offiziere und Soldaten der Uno-Schutztruppen (Unprofor) als machiavellistisch oder gar verwerflich. Dabei versuchten die Bosnier lediglich, die einzige Waffe zu benutzen, die ihnen angesichts des sonderbaren, heuchlerischen internationalen Engagements für ihr Land geblieben war.
Die Uno-Mission in Bosnien hatte letztlich etwas von Grund auf Widersprüchliches an sich; egal, wieviel Heroisches ihre Helfer leisteten: «Die Crux war», schreibt Wayne Bert in «The Reluctant Superpower» («Die Weltmacht wider Willen»), «dass die Uno in erster Linie für Frieden sorgen wollte, wodurch die Frage der Gerechtigkeit sekundär wurde.»
Was genau versuchten damals die Uno und die westlichen Länder denn zu erreichen? ·
In seinem Buch «Slaughterhouse» («Schlachthaus») bemerkt David Rieff, dass das Erfolgskriterium weder moralischer noch politischer Natur war: «Obschon die bosnische Regierung die eines international anerkannten Staates war und die bosnisch-serbische «Republik» das Ergebnis einer unrechtmässigen Rebellion, hatte die Uno das Gefühl, beide Seiten gleich behandeln zu müssen: Nämlich als «die kriegführenden Parteien». Die Uno wollte nichts weiter, als die Hilfsgüter durchbringen und einen Frieden erleichtern. Die Bedingungen für einen Frieden waren vom Standpunkt der Unprofor aus fast schon egal. Es musste kein gerechter Friede sein, ja nicht einmal ein Friede, der sich wahren liess. Die Uno wollte nur eines: dass «die Parteien» sich darauf einigten.»
Wenn «Frieden» das einzige Ziel ist, und die Bedingungen dafür «fast schon egal» sind, dann sind wir von «Gerechtigkeit» so weit entfernt wie nur mí¶glich. Das Ziel war natürlich, die Kapitulation der Muslime zu erzwingen und ein Abkommen im Sinne der Serben hinzunehmen. Denn was anderes wäre ein Abkommen, das «ausgehandelt» wurde, während die Serben mehr als 70 Prozent des bosnischen Territoriums besetzt hielten? «Das mochte kein ideales Ergebnis sein», schreibt Rieff, «aber wenigstens würden keine weiteren Menschen umgebracht.» Das also war das Ziel der Uno und der hinter ihr stehenden Briten und Franzosen.
Doch nun hatte ein neuer starker Spieler das Feld betreten. Dass die Bosnier sich von Präsident Clinton viel erhofften, dass sie sich von seiner Redekunst ermutigt fühlten, auch wenn die nichts als leere Worte bot, hatte gravierende Folgen. Warum sollten die Bosnier die im Vance-Owen-Plan festgehaltene ethnische Aufteilung hinnehmen, wenn der führende Mann der freien Welt erklärte, «die ethnischen Säuberungen sind unhaltbar»? Im Dezember 1992, noch bevor die neue US-Regierung im Amt war, warnte Lord Owen in Sarajevo die Bosnier: «Hí¶rt auf zu träumen. Hí¶rt auf zu glauben, dass der Westen kommen und das Problem für euch lí¶sen wird.»
Uno-Vertreter konnten noch deutlicher werden. Als im Frühling 1994 die USA eine neue Botschaft in Sarajevo erí¶ffneten, sagte Yasushi Akashi, der japanische Sonderbotschafter des Uno-General- sekretärs, solche politische Gesten verleiteten die muslimische Regierung zum Weiterkämpfen. «Sie kí¶nnen darauf zeigen und sagen: «Seht, die Amerikaner sind auf unserer Seite.» Wir kí¶nnen nur hoffen, dass, nachdem die Nato ihnen nicht geholfen hat, sie begriffen haben, dass die amerikanische Kavallerie nicht im nächsten Augenblick um die Ecke biegen wird.»
Dadurch, dass Clinton statt sinnvoller Taten grosse Reden brachte, war die Bosnienpolitik seiner Administration nicht nur verlogener, sondern in vieler Hinsicht sogar schädlicher als die seines Vorgängers George Bush. Bush hatte die Gelegenheit gehabt, den Krieg zu verhindern oder zumindest einzudämmen, als dies noch mit minimem Aufwand mí¶glich gewesen wäre; und obschon er visionär zu sein behauptete, war er zu kurzsichtig und ängstlich gewesen, um diese Chance zu ergreifen. Aber zumindest hatte Bush den Bosniern nie die amerikanische Kavallerie versprochen. Clinton dagegen hatte gelobt, dass Amerika helfen werde; doch er hatte nur Worte zu bieten, und diese Worte enttäuschten nicht nur: Sie gaben zu Hoffnungen Anlass, die die Bosnier mit Blut bezahlten.
Mitte Februar 1993 hatte die serbisch-bosnische Offensive von General Ratko Mladic dazu geführt, dass die isolierten í¶stlichen Städte Srebrenica und Cerska mit Flüchtlingen vollgestopft waren; und jene abgezehrten Menschen, die nicht in Mladic’ Granatenhagel starben, waren am Verhungern.
Ende Februar reagierte Clinton endlich mit einem neuen Vorschlag. Amerikanische Hercules-Transportflugzeuge würden Nahrungsmittel und Medikamente über Bosnien abwerfen. Die Flüge würden unter dem humanitären Mandat der Uno ausgeführt, «als Ersatz», wie Buchautor James Gow unverhohlen kommentiert, «für ein stärkeres militärisches Engagement der USA».
Am 28. Februar hoben vier C-130-Hercules-Transportflugzeuge schwerfällig von der Startbahn eines Militärflughafens bei Frankfurt ab und wandten ihre Nasen in Richtung Süden. Wenig später, 3000 Meter über Cerska, rund 20 Kilometer nordwestlich von Srebrenica, schoben amerikanische Fliegersoldaten schwerbeladene Paletten durch die Luke und blickten den weissen Fallschirmen nach, die flatternd zwischen den schneebedeckten Bergen verschwanden. Die Amerikaner führten die Aktion perfekt aus, die Paletten plumpsten zielgenau in den Schnee. Ihre gute Arbeit blieb allerdings bedeutungslos: Denn als die Nahrungsmittel und Medikamente durch die kahlen í„ste krachten, hatten die Serben Cerska bereits gestürmt und waren damit beschäftigt, verwundete Muslime umzubringen, die Häuser zu plündern und zu verbrennen. Alle Muslime, die nicht tot im Schnee lagen, waren längst geflohen.
Aus Srebrenica und anderen Städten und Dí¶rfern berichteten Funkamateure, welche die einzige Verbindung der í¶stlichen Enklaven zur Aussenwelt waren, von Massenmorden, von serbischen Soldaten, die Frauen und Kindern die Kehlen durchschnitten. Sadako Ogata, die Uno-Hochkommissarin für Flüchtlinge, schickte eine Zusammenfassung dieser Berichte an Uno-Generalsekretär Boutros Ghali. «Selbst wenn nur zehn Prozent dieser Informationen stimmen», schrieb Ogata, «sind wir Zeugen von Massakern, ohne etwas dagegen tun zu kí¶nnen». Und sie machte einen überraschenden Vorschlag: Die Uno sollte die Muslime aus Srebrenica evakuieren. Früher war die Uno immer gegen solche Evakuierungen gewesen. Ogatas Vorschlag würde die Uno in die Lage bringen, die Serben bei der «ethnischen Säuberung» des Gebiets zu unterstützen.
Aufgrund derselben Greuelberichte verlangten in New York Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates, in Ostbosnien müsse «die Präsenz der Unprofor sofort verstärkt werden». Um diese Berichte zu überprüfen, reiste General Philippe Morillon, der weisshaarige charismatische franzí¶sische Befehlshaber der Uno-Truppen in Bosnien, am 5. März in die verdächtige Region. Als er wieder in seinen Helikopter stieg, gab er den Reportern dramatisch zu Protokoll: «Als Soldat habe ich leider die Fähigkeit, den Tod zu riechen. Ich habe ihn nicht gerochen.»
Stunden später konnten sich die Reporter auf etwas Glaubwürdigeres als General Morillons Nase berufen. Simon Mardel, ein für die Weltgesundheitsorganisation tätiger Arzt, hatte sich von Morillons Gruppe getrennt und zu Fuss nach Srebrenica durchgeschlagen. íœber Amateurfunk berichtete er, jeden Tag stürben zwanzig bis dreissig Flüchtlinge an Lungenentzündung und anderen Krankheiten. Seit Monaten operierten muslimische í„rzte ohne Anästhesie. Flüchtlinge schliefen im Schneematsch der Strassen von Srebrenica und ernährten sich von Wurzeln und Gras. Was die abgeworfenen Vorräte betreffe, hätten sich die Stärksten eingedeckt; das waren Offiziere, Soldaten, Angehí¶rige der Arbeitsbrigaden, welche die Schützengräben aushoben. Die Schwächsten: Kranke, Verwundete, obdachlose Flüchtlinge bekämen nichts.
In seinem Buch «Blood and Vengeance» («Blut und Rache») schreibt Chuck Sudetic: «Auf den Berghängen über Srebrenica flackerten jede Nacht die Flammen einer Unmenge von Fackeln, während verzweifelte Menschen durch die Wälder zu den Abwurfstellen strí¶mten. Nur wenige der neu eingetroffenen Flüchtlinge, viele davon Witwen mit Kindern, hatten Kraft genug, um so weit zu gehen und um das Essen zu kämpfen. Um an Mehl heranzukommen, brachten Männer einander in den Wäldern um. Fallende Paletten, gross wie Kühlschränke, krachten in den Schnee und hatten schon Menschen erschlagen, die in der Landezone gewartet hatten, um ihre Chancen zu verbessern. Die Amerikaner reagierten auf das Chaos, indem sie Zehntausende einzeln in braunes Plastik verpackter Mahlzeiten abwarfen, die wie vakuumisiertes Manna vom Himmel auf die Erde fielen.»
Während Clinton und seine uneinigen Berater Sitzung um Sitzung zerredeten, arbeiteten Angestellte von Warren Christophers Aussenministerium an ihrer «revidierten Fassung» der Bosnienpolitik, und in der Presse munkelte man von einem neuen, mutigeren Plan nach dem Motto «Lift and Strike», Aufheben und Zuschlagen. Laut diesem sollte die Uno das Waffenembargo gegen die Bosnier aufheben, und die Nato sollte mit ihren Kampfflugzeugen einen Schlag gegen die Serben führen, damit die Bosnier Zeit hätten, den Umgang mit ihren neu erworbenen Waffen zu erlernen, um «sich selbst zu verteidigen». Der Plan hatte viele Vorzüge, deren auffälligster allerdings eher den Zweck hatte, das amerikanische Stimmvolk zu besänftigen, als die militärische Situation in Bosnien zu verändern. Mittlerweile war die Aufhebung des Waffenembargos eine beliebte Idee, insbesondere im republikanisch dominierten Kongress.
Wenn «Lift and Strike» innenpolitische Vorzüge hatte, so war der Wert seiner praktischen Umsetzung zweifelhaft. Der Plan beruhte nämlich auf logistischer und geographischer Ignoranz. Auf die Frage, wie die Waffen nach Sarajevo oder Tuzla gelangen sollten, hiess es vage, dass eine ausländische Macht diese hinbringen müsste. Wollte man einen Landkorridor vom Adriahafen Split nach Sara- jevo í¶ffnen, errechneten Offiziere und Pentagonmitarbeiter, wären dazu mehr als 100 000 Mann ní¶tig. Damit verpuffte allerdings der Hauptreiz des «Lift and Strike»-Plans: dass man ihn als Interven- tion zugunsten der Bosnier bezeichnen konnte, ohne tatsächlich intervenieren zu müssen.
Vor die Wahl gestellt, «Lift and Strike» zu unterstützen oder nicht, lehnten die Europäer ab. Sie sahen sich mit echten Problemen konfrontiert. Sie befürchteten, die Einfuhr neuer Waffen würde den Krieg anheizen, was natürlich Teil des Plans war; sie befürchteten zudem, jetzt, da man einem «Frieden» – zugunsten der Serben, ja, aber so war das Leben nun mal – so nahe gerückt war, würde die Bewaffnung der Bosnier den Krieg in die entgegengesetzte Richtung katapultieren. Zu guter Letzt jedoch lief es darauf hinaus, dass britische, franzí¶sische und spanische Truppen vor Ort waren, die Amerikaner aber nicht; und wenn die Amerikaner nicht wirklich darauf bestanden, das heisst mit einer Auflí¶sung des Nato-Paktes drohten, dann konnten die Europäer deren Vorschlag nicht ernst nehmen.
So gelang Clinton die perfekte Politik: eine Politik der Rhetorik, die nur aus Worten bestand. Sie brachte moralischen Kredit, und sie war risikolos. Bald schon würde Clintons Rhetorik aber übertrumpft werden von jenem ausgesprochen unabhängigen Franzosen algerischer Abstammung, der sich gern auf seine Nase verliess und der kraft seiner Persí¶nlichkeit den Bosniern das Meisterstück rhetorischer Politik des ganzen Kriegs zumuten würde.
Am 10. März war General Philippe Morillon aus Sarajevo aufgebrochen mit dem Ziel, Srebrenica Hilfe zu bringen. Die Serben liessen seinen Lastwagenkonvoi nicht durch, einzig Morillon durfte in die Stadt. Dort angekommen, behandelte ihn der muslimische Kommandanten Nasr Oric als lebendes Pfand: Solange Morillon in Srebrenica war, konnten die Serben nicht angreifen. General Morillon versuchte zuerst, die Stadt heimlich zu verlassen, doch dann änderte er seine Meinung und stellte sich den Muslimen als lebenden Schutzschild zur Verfügung. Sein neues Ziel war es, aus der Enklave eine Schutzzone der Uno zu machen. Verwundete und Flüchtlinge hätten die Mí¶glichkeit, die Stadt zu verlassen, um sich auf der muslimischen Seite in Sicherheit zu bringen.
Am 26. März 1993 traf sich General Morillon in Belgrad mit Präsident Milosevic und General Mladic und erreichte einen Waffenstillstand zusammen mit dem Versprechen des serbischen Generals, Nahrungsmittelkonvois nach Srebrenica hineinzulassen und – erstmals – jene zu evakuieren, die wegwollten.
Beim Eintreffen der weissen Lastwagen kam es zu einem Tumult, als die verzweifelten Flüchtlinge sich zu den Wagen durchzukämpfen versuchten. Im ersten Konvoi quetschten sich 2400 Leute in Wagen, die Platz für 700 boten. Jüngere Frauen kämpften gegen ältere; im verzweifelten Versuch, das Leben ihrer Kleinkinder zu retten, warfen manche Frauen sie irgendwelchen Menschen zu, die schon auf den Lastwagen standen und bereit waren, sie mitzunehmen. Am Bestimmungsort in Tuzla stellten í„rzte fest, dass die Lastwagen mit Blut und Erbrochenem beschmiert waren, und wenn die Flüchtlinge herausgestrí¶mt waren, blieben immer ein paar Leichen zurück, meist die von Kindern.
Selbstverständlich war allen klar, dass die Uno den Serben Arbeit abnahm. íœberschwenglich feuerte General Mladic die Uno-Leute an, es müssten täglich 300 Lastwagen in die Stadt geschickt werden, um sie schneller zu entví¶lkern. «Doch dann», schreiben Honig und Both in ihrem Buch «Srebrenica: Record of a War Crime» («Srebrenica: Chronik eines Kriegsverbrechens»), «wurde die bosnische Regierung unruhig und stellte sich gegen weitere Evakuierungen. Sie wollte, dass Srebrenica zu einem von der Uno geschützten Zufluchtsort erklärt werde. Sollten die Evakuierungen mit dieser Geschwindigkeit weitergehen, bliebe bald keine nennenswerte Zivilbeví¶lkerung übrig. Doch ohne Zivilisten, deren Leben direkt bedroht war, würde der Druck auf die Uno, Friedenstruppen nach Srebrenica zu schicken, nachlassen.»
Ebenfalls am 26. März hielten muslimische Soldaten in Tuzla einen Konvoi voller muslimischer Flüchtlinge an und drohten, die Verzweifelten nach Srebrenica zurückzuschicken. «Der Konvoi darf nicht nach Tuzla hinein», sagte ein muslimischer Offizier. «Wir sind bereit, diese Leute zu opfern.» Obschon diese Menschen schliesslich doch in die Stadt gelassen wurden, hatten sich die Positionen der Serben und der Muslime nun in ihr Gegenteil verkehrt. Die Serben, die jeden Zugang zu Srebrenica versperrt hatten, erlaubten der Uno jetzt, so viele Menschen zu evakuieren, wie sie konnte. Die Bosnier wiederum, die verlangt hatten, dass den Nahrungsmittelkonvois der Weg freigemacht werde, blockierten nun alle Versuche, ihr Volk aus Srebrenica zu evakuieren.
Schliesslich wurden am 16. April Srebrenica und fünf weitere Enklaven offiziell zu Uno-Schutzzonen erklärt und etwa 300 kanadische Soldaten nach Srebrenica geschickt, um die Demilitarisierung zu überwachen. Franzí¶sische Experten hatten zwar das Truppenkontingent, das zur Erfüllung dieser Aufgabe ní¶tig gewesen wäre, auf 40 000 Mann veranschlagt, aber keine der westlichen Mächte war bereit, Soldaten zu stellen.
Was genau waren denn diese «Schutzzonen», die diese Handvoll Männer «bewachen» sollte? Ein Uno-Offizier antwortete: «Gewalt, Schwarzmarkthandel, Prostitution und Diebstahl drohen zu den einzigen Aktivitäten der Beví¶lkerung zu werden. Die Spannung zwischen der Mehrheit der Flüchtlinge und der Minderheit der ursprünglichen Beví¶lkerung wächst. Wie üblich sind Frauen, Kinder und alte Leute am meisten gefährdet. Die Enklave muss als das erkannt werden, was sie ist: ein geschlossenes Flüchtlingslager mit 50 000 Menschen, das nicht mehr als 15 000 adäquate Unterkünfte bieten kann.»
Die «Schutzzonen» waren nicht viel mehr wert als Wí¶rter auf einem offiziellen Wisch. Und General Morillon, ihr «Erfinder» und Garant, wurde wegen seiner eigenmächtigen Handlungsweise, nach Frankreich zurückgerufen. ·
Vorderseite: In Mostar, Sommer 1993, auf der muslimischen Seite. Vom anderen Ufer des Flusses schiessen die Kroaten.
Oben Auf der muslimischen Seite von Mostar, November 1993. Zuvor hatten sich die Konfliktparteien geeinigt, Hilfslieferungen durchzulassen.
Unten Holzsammeln in Sarajevo, Sommer 1993 (rechts). Ein Toter im Altersheim von Petrinja, einer umkämpften Kleinstadt in der Nähe von Karlovac, Kroatien, September 1991 (Foto Zoran Filipovic).
Oben Die Friedensvermittler David Owen (links) und Cyrus Vance vor der Uno in New York, 3. Februar 1993. Am Vortag hatte sich Präsident Clinton kritisch zu ihrem Friedensplan geäussert.
Unten Waisenkinder in Tuzla, Frühling 1997.
Links Ein Uno-Konvoi in Bosnien, Frühling 1993. Auftrag: Die freie Durchfahrt von Hilfsgütern zu erzwingen.
Rechts Kanadischer Uno-Soldat in Srebrenica am 25. April 1993. Srebrenica wurde neun Tage zuvor zur Schutzzone ernannt. Die Zerstí¶rungen rühren von einem serbischen Angriff.
Der franzí¶sische Uno-Kommandant Philippe Morillon, Urheber der Schutzzonenidee, mit Nasr Oric, dem muslimischen Militärchef der Schutzzone Srebrenica am 5. Mai 1993.
4 Gut gelogen
Im Februar 1994 tí¶tete eine Granate 68 Menschen auf dem Marktplatz von Sarajevo. Woher kam die Granate? Die Gerüchte, Muslime hätten sie abgefeuert, sind nie verstummt.
Am 5. Februar, einem sonnigen und unwinterlich warmen Sams- tagnachmittag in Sarajevo, fuhr ein 120-mm-Mí¶rsergeschoss durch das leichte Blechdach des Markela-Marktes. Zwei Kilogramm Explosivstoff zerdonnerten; glühendes Schrapnell und rissige Metallstücke schraubten sich durch die Menschenmenge; in einem ein- zigen Augenblick war eine dichte Ansammlung schwatzender, streitender, lachender Menschen zerrissen worden.
Als wir zu dem kleinen Platz kamen, fanden wir nicht infernalen Rauch und Dunkelheit vor, sondern das gestochen scharfe Bild zerstreuter dunkler Haufen. Dazwischen bahnte sich eine klebrige Flüssigkeit ihren Weg durch verkohltes Gemüse und Plastikfetzen.
Zwei Männer schleppten eine weiche, sanft stí¶hnende Kí¶rpermasse; Menschen huschten von Haufen zu Haufen, kauerten nieder, drückten hier den Finger an den Hals, hielten inne; hoben dort ein Augenlid, starrten ins Leere. Ich nahm das Notizbuch hervor und ging weiter, meine Schuhe waren schon klebrig geworden.
Wir gingen im Gänsemarsch durch die blutige Topographie, suchten einen Weg durch Oberkí¶rper und Rumpfteile, durch Arme und Hände und Stücke von Gliedmassen, durch grosse, formlose Fetzen von Fleisch, vermischt mit verkohltem Metall, Gemüse und Holzspänen. Drei Männer in schwarzen Handschuhen waren hinter einem alten Lastwagen an der Arbeit. Ich trat näher und sah, dass sie versuchten, die Kí¶rper zu arrangieren, sie suchten nach passenden Kí¶rperteilen und hoben sie auf die Ladefläche. Der Lastwagen war schon halbvoll, von den Pneus tropfte dickes Blut.
Ein grosser schnauzbärtiger Mann weinte. Er beugte sich über ein blutiges Bündel von Tuch und Fleisch, zwei kleinere Männer stützten ihn. Als der grosse Mann wieder auf die Füsse kam, sein schnauzbärtiges Gesicht rot und verkrampft und wütend, erkannte ich ihn wieder. Ich hatte am Tag zuvor mit diesem Mann geplaudert, was verkaufte er schon wieder? Linsen, ja, Linsen und Kartoffeln, und seine Frau, die entleibt am Boden lag, war an seiner Seite gestanden. Jetzt hob er seinen grossen Kopf, schaute zum Himmel, schüttelte die Fäuste und begann zu schreien; ich folgte seinem Blick und sah glitzernde Pünktchen im klaren Blau: Flugzeuge der Nato patrouillierten über der «Schutzzone» von Sarajevo.
«Viele hatten Eis in den Ohren.»
«Was, Entschuldigung, was meinen Sie?»
«Eis. Sie hatten Eis in den Ohren», sagte Dr. Radovan Karadzic, Psychiater, Dichter, Leader der Serben, und nahm einen Lí¶ffel Eintopf. «Sie kennen ja die Muslime, sie gingen ins Leichenschauhaus und brachten die Toten auf den Markt. Selbst wenn die Muslime die Granaten selber abfeuern wie diesmal: Keine einzelne Granate tí¶tet so viele Menschen aufs Mal. Deshalb gingen sie ins Leichenhaus.»
Eis in den Ohren? Was sollte ich darauf antworten? Ich bin dort gewesen, die Leichen waren echt, das kann nicht Ihr Ernst sein? Und Dr. Karadzic würde mir in die Augen schauen und in diesem vernünftigen Ton sagen: Ja, aber haben Sie ihre Ohren untersucht? Nein? Wie kí¶nnen Sie dann sicher sein?
Ich war sprachlos; es war nicht das erste Mal während unseres Essens. Und doch, in der indiskutablen Monstrosität seiner Aus- sage lag mehr. Sie reichte hinein in die komplexe diplomatische Sprache dieses Krieges. Karadzic fabrizierte Entschuldigungen für die Welt, Ausreden, um diesen Krieg geschehen zu lassen.
Zwei Tage vor meiner Begegnung mit Dr. Karadzic, vier Stunden nachdem die Granate das Wellblech der Markthalle durchschlagen hatte, sass ich in Sarajevo im vollgestopften Büro der ABC News und sah fern. Jemand schaltete von Sarajevo TV, wo die Leichen gezeigt und die Namen der Toten aufgeführt wurden, zu den britischen Sky News. Eine junge Nachrichtensprecherin sagte, Dr. Radovan Karadzic sei über die Anschuldigung, die Serben hätten den Markt bombardiert, empí¶rt. Er verlange, dass die Beschuldigung zurückgenommen werde, und solange dies nicht geschehe, würden seine Soldaten alle Nahrungsmitteltransporte in die Stadt blockieren. Nach dieser Nachricht blickte die Sprecherin direkt in die Kamera und sagte mit geübtem Nachdruck: «Es gibt noch keinen Bericht dar-über, wer der Urheber dieses grässlichen Verbrechens ist.»
Die Absurdität der Aussage war dermassen offenkundig, dass ich mich sprachlos nach den Reaktionen im Zimmer umsah. Niemand zuckte mit der Wimper. Alle waren daran gewí¶hnt. Sie wären auch nicht erstaunt gewesen zu erfahren, dass zur selben Zeit ein den Uno-Truppen unterstellter kanadischer Major in der nordwestlichen Ecke des Marktes kauerte und eifrig das Muster studierte, nach dem das Schrapnell der Granate sich ausgebreitet hatte, um herauszufinden, woher sie gekommen war. Tatsächlich war der kanadische Major mit der bereits dritten Krateranalyse dieses Nachmittags beschäftigt. Die erste hatte ein franzí¶sischer Leutnant um 14 Uhr durchgeführt, die zweite ein franzí¶sischer Hauptmann eine Stunde später. Da es sich um eine nicht eben exakte Wissenschaft handelte, differierten die Ergebnisse markant: Der franzí¶sische Leutnant kam zum Schluss, die Granate sei aus dem Norden gekommen, was theoretisch bedeutete, dass sowohl Serben als auch Muslime sie hätten abschiessen kí¶nnen; der kanadische Major kam auf etwas anderen Wegen zum ungefähr gleichen Resultat; der franzí¶sische Hauptmann hingegen fand, das Geschoss sei aus dem Osten gekommen – dort waren die muslimischen Linien positioniert.
Auf einen naiven Betrachter wirkte diese íœbung hí¶chst verwirrend. Sarajevo lag in einem Tal, umgeben von Bergen. Seit fast zwei Jahren beschossen serbische Geschütze, darunter viele 120-mm-Mí¶rser, von eben diesen Bergen aus Sarajevo Tag für Tag mit Granaten. Bisher hatten sie vielleicht 10 000 Menschen umgebracht. Doch sobald eine Granate viele Menschen auf einmal tí¶tete, fühlte die Uno sich verpflichtet, die Herkunft der Granate als «unbestimmt» zu bezeichnen.
Das Ganze ist ein weiteres Beispiel für die Symbiose zwischen den Serben und der Uno. Die Serben waren am Gewinnen und brachten Bosnien damit dem «Frieden» näher, wenn nur die sturen Muslime das endlich hingenommen hätten. Und die Uno, deren vornehmlich franzí¶sischen und britischen Truppen, wollten nichts weiter, als «humanitäre Hilfe» leisten und sich «neutral» verhalten, damit die Serben ihnen weiterhin erlaubten, die Opfer zu versorgen.
«Eis in den Ohren»: Mit seinen scheinbar absurden Aussagen hatte Karadzic die Situation glänzend interpretiert. Da, wo es keinen Zweifel geben durfte, gelang es ihm, Zweifel zu wecken, weil die Leute zweifeln wollten.
Vor diesem Tag im Februar 1994 hatten sich die westlichen Staatschefs in einem Lähmungszustand befunden. Präsident Clin-ton verlangte «drastische Massnahmen», war selbst jedoch nach wie vor nicht gewillt, amerikanische Truppen zu entsenden. Die Europäer waren entschlossen, ihre Intervention einzig auf die Bewachung von Nahrungsmittelkonvois zu beschränken. Doch nun spürten die westlichen Staatschefs, wie sehr die Blicke der Welt auf sie gerichtet wurden.
Für die Interventionisten in Clintons Beraterstab, der in der Bosnienfrage tief gespalten war, traf die Granate den Markt zu einem günstigen Zeitpunkt. Seit fast einem Jahr hatten die USA sich weitgehend passiv verhalten.
Präsident Clinton schob die Schuld den Europäern zu: Sie hatten die von ihm vorgeschlagene Politik von «Lift and Strike» abgelehnt. Die Europäer beschuldigten Clinton: Seine leidenschaftlichen Reden und Sympathiebekundungen für die Bosnier hatten wenig mehr bewirkt, als die bosnischen Führer in der Illusion zu wiegen, dass die Amerikaner ihnen zu Hilfe eilen würden.
Niemand weiss, wie lange die Amerikaner noch zugewartet hätten, wenn keine Granate auf den Markt gefallen wäre. Unter dem Eindruck der Bilder aus Sarajevo – und von Gesprächen, bei denen der franzí¶sische Aussenminister Alain Juppé verlangt hatte, dass die USA sich in Bosnien stärker einsetzten – wurde zusammen mit den Franzosen entschieden, den Serben ein Ultimatum zu stellen. Falls sie nicht binnen zehn Tagen ihre schweren Geschütze zwanzig Kilometer von Sarajevos Zentrum entfernt hätten, würden ihre Artilleriestellungen von Nato-Kampfflugzeugen angegriffen und zerstí¶rt. Das Ultimatum hatte eine unerwartet weit reichende Wirkung. Abgesehen von der Ruhepause, die es der Beví¶lkerung von Sarajevo brachte, wurde dadurch eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, welche der widersprüchlichen westlichen Bosnienpolitik ein Ende machte und, nach dem Massaker in Srebrenica, zum Waffenstillstand von Dayton führte.
Am Tag nach der Bombardierung des Marktes hatte David Owen, der EU-Verhandlungsführer, Radovan Karadzic getroffen, um ihn zu einem «separaten politischen und militärischen Friedensabkommen betreffend den Bezirk Sarajevo» zu überreden. Laut Lord Owen war Karadzic «äusserst wütend», auch über das angekündigte Ultimatum. «Ultimatum war für ihn ein emotionsgeladenes Wort, da es die Deutschen vor der Bombardierung von Belgrad verwendet hatten. Karadzic bestritt vehement, dass seine Streitkräfte eine Granate auf den Marktplatz gefeuert hätten.» Lord Owen zeigte sich verständnisvoll: «Nachdem ich seit 18 Monaten den Behauptungen und Gegenbehauptungen der drei Parteien ausgesetzt war, kamen für mich alle als Verantwortliche in Frage.»
Während die Diplomaten in Brüssel über den Wortlaut ihres Ultimatums debattierten, arbeitete Unprofor-Befehlshaber General Rose intensiv auf eine Waffenruhe hin. Der Engländer, ein gefeierter Offizier, der auch die britische Eliteeinheit Strategic Air Services kommandiert hatte, hielt eine Bombardierung durch die Nato für katastrophal. Mit der ersten Nato-Bombe, so glaubte er, würden sich die von ihm kommandierten Truppen in den Augen der Serben von Friedenswächtern in Krieger verwandeln. Deshalb wartete General Rose auf dem Flughafen von Sarajevo auf Offiziere der serbischen und der bosnischen Armee. Die serbischen Offiziere kamen, die bosnischen nicht. Die Serben hofften, mit dem Angebot von Rose der Bombardierung durch die Nato zu entgehen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Izetbegovic und seinen Kollegen dagegen kam der Plan von Rose sehr ungelegen. Sie hofften, die Bombardierung des Marktes und das dadurch ausgelí¶ste Mitgefühl der Welt brächte ihnen endlich das, worum sie seit Beginn des Kriegs gekämpft hatten: aktive militärische Unterstützung des Westens. ·
Wütend über die Absage der Bosnier fuhr General Rose ins Büro von Izetbegovic, der gerade von CNN interviewt wurde. Laut General Jovan Divjak, dem stellvertretenden Kommandanten der bosnischen Streitkräfte, der ebenfalls anwesend war, platzte Rose hinein und drohte, «die internationale í–ffentlichkeit zu informieren, dass wir an der Fortsetzung des Konflikts schuld wären, da die serbische Seite zu verhandeln bereit sei, während wir uns weigerten».
Dann habe Rose, laut hí¶heren Unprofor-Offizieren, die ihn begleitet hatten, einen Briefumschlag hervorgezogen, Divjak und Izetbegovic gezeigt und gesagt: «Ich habe hier eine Anschuldigung.» Es handelte sich offenbar um die zweite Krateranalyse, jene, welche die Muslime belastete. Daraufhin soll sich Präsident Izetbegovic umgehend bei Rose entschuldigt und General Divjak zum Flughafen beordert haben. Kurz danach wurde die Waffenruhe vereinbart.
Als am 21. Februar 1994 die Dunkelheit über Sarajevo hereinbrach, begannen sich serbische Panzerwagen, Kanonen und Mí¶rser langsam die Berghänge hinunterzubewegen. Viele dieser Waffen waren unterwegs zu «Sammelplätzen», die im serbisch besetzten Gebiet eingerichtet und von franzí¶sischen, russischen und ukrainischen Friedenswächtern «überwacht» werden sollten. Konfrontiert mit der drohenden Bombardierung durch westliche Kampfflug- zeuge, hatten General Ratko Mladic und Dr. Radovan Karadzic einen Rückzieher gemacht. Für Präsident Izetbegovic und seine bosnischen Muslime hätte dies ein eigentlicher Triumph sein müssen.
War es aber nicht. Zehn Tage lang hatten die Serben dem Ultimatum getrotzt, bis der britische Premierminister John Major, der eigentliche Boss von General Rose, nach Moskau flog und den rus-sischen Präsidenten Boris Jelzin um Beistand ersuchte. Mit Major auf seiner Seite prangerte Jelzin daraufhin die Versuche des Westens an, ohne das Einverständnis von Russland auf dem Balkan einzugreifen. Dann schickte Jelzin eine Botschaft an Karadzic mit dem Angebot, russische Friedenswächter zu schicken, um serbische Viertel zu beschützen und serbische Waffen zu bewachen.
Dr. Radovan Karadzic, den die Welt als Urheber des Marktmassakers verachtete, hatte die Spaltung des Westens – in Franzosen und Amerikaner, die seit kurzem aggressiver auftraten, und in stets zurückhaltende Briten und gehässige Russen – raffiniert ausgenutzt.
Nach dem Marktmassaker in Sarajevo war Karadzic stärker denn je. Präsident Izetbegovic dagegen, der die lang ersehnte militärische Unterstützung durch den Westen endlich in Reichweite gesehen hatte, sah sich enttäuscht, gedemütigt und gefangen. Seine Hoffnung, dass die silbrigen Flugzeuge über dem Himmel von Sarajevo je etwas anderes tun würden, als weit oben ihre Kreise zu ziehen, wurde immer kleiner.
Ich erfuhr vom «Time»-Reporter Ed Barnes, wer die Bombe auf den Markt geschossen hatte. Am Tag des Massakers, erzählte er mir, wurden 300 Juden aus Sarajevo evakuiert. Weil sich die Formalitäten in die Länge zogen, wurde der Buskonvoi geteilt. Als die ersten drei Busse passiert hatten, dachten die Serben, der Waffenstillstand sei vorbei. Ihr erstes Ziel waren die Freunde der Evakuierten, die vor dem jüdischen Gemeindehaus, wenige hundert Meter vom Mar- kela-Markt entfernt, herumstanden. «Die Serben schossen am liebsten auf Menschenansammlungen», meinte Barnes. Sie haben diese Ansammlung verfehlt, aber eine andere getroffen. ·
Vorderseite Friedenstruppen der Uno auf dem Flughafen Sarajevo.
Oben Der Markela-Markt in Sarajevo nach dem Einschlag der Granate am 5. Februar 1994.
Oben Tragbahren vor dem Kosevo-Spital in Sarajevo.
5 Smith gegen Mladic
Im Westen ergreift endlich das Militär die Initiative. Der englische Uno-General Rupert Smith geht aufs Ganze und schickt die Bomber los. Die Politiker müssen Farbe bekennen.
Am 22. Mai 1995 – 15 Monate nachdem die westlichen Staatschefs aus Empí¶rung über die Fernsehbilder von 68 verstümmelten Leichen in der Markthalle von Sarajevo ein Ultimatum ausgesprochen hatten und die bosnischen Serben deswegen ihre Panzerwagen, Kanonen und Mí¶rser aus den Bergen und Kämmen über der Stadt abgezogen hatten – erzwangen sich schwerbewaffnete serbische Soldaten in Camouflageuniformen den Zugang zu einem der Uno-Waffensammelplätze. Gemächlich zwischen den Geschützen und Panzerfahrzeugen herumschlendernd, als seien sie auf einem Einkaufsbummel, wählten sie aus dem verlockenden Angebot schliesslich zwei Kanonen aus. Die Proteste der gedemütigten franzí¶sischen Uno-Blauhelme, welche die serbischen Waffen hätten «beaufsichtigen» sollen, taten sie mit einem Lachen ab, während sie die Kanonen an ihre Lastwagen koppelten und durchs Tor hinausfuhren.
Am folgenden Tag befahl General Ratko Mladic, Kommandant der bosnisch-serbischen Armee, seinen erneut in Stellung gegan- genen Artilleristen ein gnadenloses Sperrfeuer auf Sarajevo.
Am 24. Mai verkündete Lieutenant General Rupert Smith, ein einfallsreicher und willensstarker britischer Offizier, der General Sir Michael Roses Nachfolge als Kommandant der Uno-Bodentruppen in Bosnien angetreten hatte, ein zweites, verschärftes Ultimatum. Sollten die Serben nicht aufhí¶ren, Sarajevo zu beschiessen, würden sie am nächsten Tag von Nato-Kampfflugzeugen angegriffen. Als die Serben den Befehl der Uno mit der gewohnten Verachtung ignorierten, überraschte General Smith General Mladic und einen Gross-teil der übrigen Welt durch eine Aktion, die sie zuletzt erwartet hätten: In der Nähe der sogenannten serbischen Hauptstadt Pale, also vor der Haustür des selbsternannten serbischen Präsidenten Karadzic, bombardierten Nato-Flugzeuge zwei Munitionsbunker.
Ausser sich vor Wut griff General Mladic zum Funkgerät und befahl seinen Soldaten, die auf den Hügeln und Kämmen rund um alle sechs von der Uno bestimmten «Schutzzonen», um Bihac, Go- razde, Tuzla, Zepa, Srebrenica und Sarajevo selbst, lauerten, die Städte unter Beschuss zu nehmen.
General Smith zí¶gerte nicht. Am nächsten Morgen um 10.30 Uhr schickte er weitere Nato-Kampfflugzeuge nach Pale, um die übrigen sechs Bunker des Depots zu bombardieren. Daraufhin befahl General Mladic seinen Soldaten, jenen Schritt zu unternehmen, den fast alle in Bosnien involvierten Staatschefs vorausgesehen hatten. Mladic befahl seinen Soldaten, die waffen- und zahlenmässig unterlegenen Uno-Truppen einzukesseln und als Geiseln zu nehmen. Wenige Stunden später sahen Menschen in aller Welt in den Nachrichten, dass Soldaten aus Frankreich, Grossbritannien und verschiedenen anderen stolzen Ländern an Hangars, Munitionsdepots, Brücken und andere strategische Ziele der Nato gekettet worden waren. «Nicht wir werden ihre Hinrichtung vollziehen», sagte einer von Dr. Karadzic’ Beratern, «sondern die Nato.»
Wie Tim Judah in seinem Buch «The Serbs» («Die Serben») beschreibt, war dies in erster Linie eine durchdachte Propaganda- aktion, die eigens für die Kameras inszeniert wurde: «Viele Gefangene wurden erst angekettet, als gefilmt wurde. Einer wurde später beim Biertrinken mit seinen Bewachern geneckt, er sei beim Posieren in der Sonne so schí¶n braun geworden. Der propagandistische Wert solcher Bilder war offensichtlich, ihr kommerzieller Wert freilich noch grí¶sser. Dragan Bozanic, Redaktor von TV Pale, versteigerte den Film an die internationalen Nachrichtenagenturen.» Aber den Scherzen über die Sonnenbräune zum Trotz hatten die bosnisch-serbischen Soldaten 374 Uno-Soldaten gefangengenommen, und während seine Leute mit den Blauhelmen Bier tranken und lachten, gelobte General Ratko Mladic í¶ffentlich, sie hinzurichten, wenn General Smith seine Flugzeuge angreifen liess.
Doch in den letzten Maitagen des Jahres 1995 sahen sich die Serben mit Rupert Smith einem Gegner gegenüber, der entschlossen war, vorwärtszumachen und zu beweisen, dass die serbische Drohung, die Uno-Soldaten hinzurichten, eine leere war. Denn was hätten sie damit anderes bewirkt, als den Zorn der Welt herabzubeschwí¶ren? General Smith war entschlossen, Mladic gegenüber aufs Ganze zu gehen und so den Teufelskreis zu durchbrechen, der die westliche Bosnienpolitik lahmgelegt hatte. Sein Versuch machte offenbar, welches Gewirr von í¶ffentlichen Prahlereien und heimlichen í„ngsten der westlichen Bosnienpolitk zugrundelag.
Im Frühling 1995 hatte sich die militärische Lage verändert: Zu Beginn des Krieges hatte die serbisch-bosnische Armee in ihrem von langer Hand geplanten Feldzug innerhalb von sechs Wochen 70 Prozent Bosniens erobert. Die Verteidigungsstrategie des bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic hatte einzig im Vertrauen auf die Solidarität der «internationalen Gemeinschaft» bestanden.
Doch dann kam der serbische Angriff zum Stillstand. Auch wenn die Intervention des Westens mehr oder weniger darin bestanden hatte, die Opfer durchzufüttern, hatte sie ausgereicht, um den Schwung der Serben zu bremsen. Dieses komplizierte Geflecht von humanitärer Hilfe, diplomatischen Beschwichtigungen, halbherzigen Sanktionen und latenten Drohungen kursierte bei den Uno-Strategen unter dem Begriff «Die Maschine».
Aber in der Zwischenzeit hatte sich auch eine muslimische Armee formiert, die nicht nur an Truppenstärke und Motivation der serbischen Seite überlegen war, sondern auch Wege gefunden hatte, um trotz des Embargos an Waffen heranzukommen. Seit Frühling 1994 wurden die Muslime von der Türkei, Saudiarabien und dem Iran über eine Luftbrücke via Zagreb mit Waffen versorgt, im stillen Einverständnis Kroatiens und der Amerikaner. Es waren die Amerikaner gewesen, die im März 1994 die Kroaten und die Mus-lime zusammengebracht hatten. Einige Wochen später fragte der kroatische Präsident Franjo Tudjman den amerikanischen Botschafter in Zagreb, Peter Galbraith, «welcher Ansicht» dessen Regierung wäre, wenn Kroatien Waffen an Bosnien weiterleitete. Der Botschafter, der sich der Empfindlichkeiten der Europäer wohl bewusst war, gab die Anfrage an Washington weiter. Präsident Clinton gab seinem Abgesandten die Instruktion, Präsident Tudjman zu bestellen, er habe in Sachen Waffenlieferungen «keine Instruktionen» erhalten. Botschafter Galbraith gab die Botschaft weiter, und er riet Tudjman ausserdem, «nicht nur auf das zu achten, was ich gesagt hatte, sondern auch auf das, was ich nicht gesagt hatte».
Zwei Jahre später erklärte Strobe Talbott, der damals stellver- tretender amerikanischer Aussenminister war, vor Senatoren des Geheimdienstausschusses: «Hätten wir den Kroaten ja gesagt, das heisst, explizit und entschieden die Waffenweiterlieferungen befürwortet, wären wir in die Situation geraten, aktiv und einseitig einen Verstoss gegen das Waffenembargo zu unterstützen. Die í¶ffentliche Enthüllung einer solchen Haltung hätte die Beziehung zu unseren Verbündeten, die Truppen an Ort und Stelle hatten, ernsthaft belastet. Es wäre zu einem überstürzten Abzug der Unprofor gekommen, der wiederum einen grí¶sseren US-Truppeneinsatz nach sich gezogen hätte als Teil einer potentiell verlustreichen Nato-Befreiungsmassnahme. Hätten wir uns explizit gegen die Weiterlieferung von Waffen geäussert, hätten wir die ohnehin verzweifelte mili- tärische Lage der Bosnier noch verschärft und das Bündnis von Muslimen und Kroaten wohl zum Scheitern verurteilt.» Im Bericht des Senats steht, dass der amerikanische General Wesley Clark, heute oberster Kommandant der Nato, persí¶nlich nach Sarajevo geflo- gen war, um sich vom reibungslosen Verlauf der Waffentrans- porte zu überzeugen. Die Amerikaner hatten ihre Nichteinmischungstaktik, wenn auch heimlich, aufgegeben; die Muslime und Kroaten wurden stetig stärker.
General Ratko Mladic musste merken, dass die Zeit für seine Serben knapp wurde. Er war gezwungen, den Krieg bis im Sommer zu Ende zu führen: Die Serben verstärkten also den Druck auf die Enklaven und schnitten die Versorgungswege ab, die nicht nur für die im Elend vegetierende Beví¶lkerung, sondern auch für die Uno-Truppen lebenswichtig waren. Im Mai 1995 beschossen die Serben Sarajevo heftiger denn je. Dann schickte General Smith mit unerwartetem Wagemut seine Bomber los, Mladic nahm Geiseln, und das Spiel begann.
Seit Monaten hatte Rupert Smith auf diesen Moment gewartet und jedem Würdenträger, der durch Sarajevo kam, seine These dargelegt, die Honig und Both so zusammenfassen: «Die internationale Gemeinschaft» müsse ihm erlauben, «strategische Ziele zu bombardieren, sonst «ginge die Maschine kaputt»: Die Nato-Luftwaffe würde ihre abschreckende Wirkung auf die Serben verlieren. Dann aber müsste die internationale Gemeinschaft für eine «bessere Maschine» besorgt sein, mit mehr Power und grí¶sserer Sicherheit».
Im Grunde war Smith’ Strategie eine politische. Sie zielte nicht so sehr auf die Serben, sondern auf die westlichen Mächte ab. Dies machte ihre Raffinesse aus, war aber auch ihre Schwäche, wie sich herausstellen sollte. Das «Schutzzonen»-Abkommen mochte 1993 ein Massaker verhindert haben, doch seit die Serben diese Gebiete bombardierten und muslimische Truppen sie als Ausgangspunkte für Ausfälle verwendeten, waren sie zu Konfliktzonen geworden, da die westlichen Staatschefs, als sie diese Gebiete zu Schutzzonen erklärt hatten, weder den Willen noch die Ressourcen zu ihrer Verteidigung aufgeboten hatten. Die Festlegung der Schutzzonen zwei Jahre zuvor war ein politischer, kein militärischer Vorgang gewesen: Die Serben konnten sofort sehen, dass die Zahl der in die Schutzzonen entsandten Truppen ungenügend war und sie davon abhängig sein würden, dass die serbischen Soldaten, welche die Enklaven eingekreist hatten, genügend Waffen, Vorräte und Verstärkung durchliessen. Die Einrichtung der Schutzzonen war im Hinblick auf das westliche Publikum erfolgt, das etwas beklatschen sollte, was es für eine starke Willenskundgebung seiner Staatschefs hielt.
Wie also sollten die Schutzzonen in eine militärische Realität umgesetzt werden? Smith’ Plan umfasste zwei strategische Phasen. Die erste, von ihm «Eskalation zum Erfolg» genannte, hatte er damit eingeleitet, dass er Luftangriffe direkt gegen Pale führte; durchaus im Wissen, dass die Serben als Reaktion darauf Geiseln nehmen würden. Nun schlug er weitere Luftangriffe vor; er setzte darauf, dass die Serben es nicht wagen würden, den Blauhelmen etwas anzutun, weil dies wohl das einzige wäre, was eine heftige Reaktion des Westens nach sich zí¶ge.
So gern Smith diesen Kurs verfolgt hätte: er machte sich auf einen anderen Ausgang gefasst. Da die Serben mit den Fernsehbildern gefangener britischer und franzí¶sischer Soldaten auf die westlichen Regierungen starken Druck ausüben konnten, nahm Smith an, dass seine erste Strategie Standhaftigkeit und politischen Mut erfordert hätte, über die wohl kein westlicher Staatschef gebot. Und was würde geschehen, wenn Mladic, entgegen jeder Vernunft, tatsächlich Geiseln hinrichtete?
Sollten die westlichen Staatschefs sich der «Eskalation zum Erfolg» aber verweigern, was General Smith für wahrscheinlich hielt, hätte er damit ein für allemal den unwiderlegbaren Beweis erbracht, dass die Uno-Mission in Bosnien, die ursprünglich als «humanitäre» geplant gewesen war, sich dann aber rasch und unkontrolliert zur «Friedenserzwingungsmission» entwickelt hatte, mit den bestehenden Mitteln nicht durchführbar war. In den Worten von Smith würde die í¶ffentliche Unwilligkeit der westlichen Staatschefs, sich auf eine «Eskalation zum Erfolg» einzulassen, beweisen, dass «die Maschine kaputt» war. Und wenn ihnen nichts anderes übrigbliebe, als dies zu akzeptieren, hätten Smith und sein Vorgesetzter General Bernard Janvier, der franzí¶sische Kommandant der Uno-Truppen, eine Alternative zu bieten: eine andere «Maschine», die funktionieren würde. Ihre Idee, die sie bereits Uno-Generalsekretär Boutros-Ghali vorgelegt hatten, bestand darin, die Uno-Truppen ausserhalb serbischer Reichweite in Zentralbosnien zu konzentrieren. In den Schutzzonen würden Beobachter genügen, die eigentliche Arbeit erledigten die Bomber.
Smith’ Strategie, die Uno-Truppen neu zu verteilen, war nicht nur militärisch und logisch unanfechtbar; sie machte gleichzeitig deutlich, was der Unentschlossenheit und der Konfusion der westlichen Staatschefs in der Bosnienfrage tatsächlich zugrunde lag: ihre Willensschwäche. Indem er die Uno-Truppen in eigene Schutzzonen zurückzí¶ge, verringerte Smith das Risiko, dass ihnen etwas zustossen kí¶nnte. Die westlichen Staatschefs, die sie dorthin geschickt hatten, wären somit an der Heimatfront politisch aus der Schusslinie. Dies gäbe den Politikern die ní¶tige Freiheit, um ihre Jagdbomber gegen die Serben loszuschicken.
Doch wie General Janvier im Sicherheitsrat inmitten des Tumults ihn von allen Seiten attackierender Stimmen schmerzlich feststellen musste, hatten er und General Smith ein kleines Detail nicht vorausgesehen.
Die amerikanische Uno-Botschafterin Madeleine Albright erklärte General Janviers Lagebeurteilung für «schlicht und einfach ví¶llig falsch». Die wütende Reaktion jener Frau, die lange eine führende Bosnienhardlinerin war, zeigte die tiefe Widersprüchlichkeit der amerikanischen Politik überdeutlich auf. Mrs. Albright war nicht bereit, sich von der Fiktion der «Schutzzonen» zu trennen, an deren Erfindung sie beteiligt war. Mit dieser vehementen Verteidigungshaltung hatte selbst der politisch scharfsinnige General Smith nicht gerechnet. Er hatte nicht berücksichtigt, dass die Schutzzonen zu einem Symbol westlicher Entschlossenheit geworden waren. Nach Mrs. Albrights und ganz bestimmt nach Präsident Clintons Dafürhalten wäre das Aufgeben der Schutzzonen misstrauischen Kongressleuten und Pressekommentatoren nur mit Mühe zu erklären gewesen; noch schwieriger allerdings hätte es sich als jene «kraftvolle» Politik verkaufen lassen, welche die Administration so lange und so risikolos befürwortet hatte.
Die Amerikaner wollten weiterhin die harten Burschen markieren und Luftangriffe verlangen, andererseits waren sie nach wie vor nicht bereit, zu diesem Zweck politische Risiken einzugehen. Als europäische Regierungschefs signalisierten, sie überlegten sich, ihre Truppen aus Bosnien abzuziehen, um so die von den Amerikanern seit langem geforderte Bombardierung zu ermí¶glichen, schlug Mrs. Albright gleich einen anderen Ton an; denn in diesem Fall hätten die Amerikaner Zehntausende von Soldaten nach Bosnien schicken müssen, von denen wahrscheinlich viele gestorben wären.
Die Vehemenz, mit der Botschafterin Albright auf General Janviers Vorschlag reagierte, zeigte sich hí¶chstens noch beim holländischen Uno-Botschafter Niek Biegman. Er wusste mehrere hundert seiner Landsleute als «Beschützer» in Srebrenica.
General Janvier war sicher gewesen, den Sicherheistrat davon überzeugen zu kí¶nnen, die Gefährdung seiner – und ihrer – Soldaten zu verringern und ihre Macht zu stärken. Er hatte gehofft, in New York die Erlaubnis zu erhalten, die í¶stlichen Enklaven mit seinen Helikoptern zu versorgen und mit seinen Kampfflugzeugen strategische Ziele tief im bosnisch-serbischen Territorium angreifen zu kí¶nnen. Doch nun kehrte er geschlagen und ohne jede Hoffnung nach Bosnien zurück.
Zwei Tage später, einen Tag nachdem serbische Truppen einen holländischen Beobachtungsposten ausserhalb Srebrenicas angegriffen und erobert hatten, weil die Uno dem holländischen Kommandanten die gewünschte Unterstützung durch die Luftwaffe verweigert hatte, reiste General Janvier heimlich in die ehemals muslimische, mittlerweile gründlich «gesäuberte» Stadt Zvornik. Er betrat das Hotel «Vidakovac» und setzte sich gegenüber Ratko Mladic, dem Kommandierenden General der Streitkräfte der Republika Srpska. Mladic hí¶rte geduldig zu, wie sein Gegenüber zugunsten der Geiseln militärische Ehre und internationalen Ruf beschwor, und legte Janiver dann ein Dokument vor:
1. Die Armee der Republika Srpska wird nichts mehr unternehmen, was Sicherheit und Leben der Unprofor bedroht.
2. Die Unprofor verpflichtet sich, keine Luftangriffe gegen Ziele der Republika Srpska anzuordnen.
3. Die Unterzeichnung dieses Dokuments wird die sofortige Freilassung aller Kriegsgefangenen zur Folge haben.
General Janvier unterschrieb nicht; er brauchte es nicht zu tun. Durch ihre Weigerung zu handeln, hatten die Diplomaten in New York das Abkommen an seiner Stelle bereits im wesentlichen akzeptiert. Ein paar Tage später, nachdem Janvier das Dokument ins Uno-Hauptquartier gebracht hatte, verkündete der Spezialbeauftragte Yasushi Akashi, in Zukunft würden sich Janviers Leute strikt an die «Prinzipien der Friedenssicherung» halten; das hiess: keine Luftangriffe mehr führen.
Zwei Wochen später waren alle Geiseln frei. Wie die 15 000 muslimischen Männer in Srebrenica bald feststellen würden, war General Mladic derjenige, der die Maschine zerschlagen hatte. ·
Vorderseite: In einem Waisenhaus in Tuzla.
Links 28. Mai 1995: Franzí¶sische Uno-Soldaten werden im serbischen Teil von Sarajevo als Geiseln genommen.
Rechts Blauhelm als Geisel im serbischen Teil von Sarajevo.
Links Sarajevo im Frühling 1993. Das Parlamentsgebäude unter Beschuss.
Rechts Der japanische Karrierediplomat Yasushi Akashi, seit 1993 Uno-Sonderbotschafter in Ex-Jugoslawien.
Unten Zerstí¶rte Bibliothek der kroatischen Stadt Vinkovci in Ostslawonien, Herbst 1991.
Lieutenant General Rupert Smith, England, seit Februar 1995 Oberkommandierender der Uno-Truppen in Bosnien.
6 Die Hunde sind los
Mit dem Rücken zur Wand gibt Milosevic dem Militär grünes Licht zum Angriff auf Srebrenica. Der Westen wird zum Zeugen eines Blutbades. Nach Srebrenica gibt es kein Abseitsstehen mehr.
Am 11. Juli 1995 zeigte das serbische Fernsehen einen euphorischen General Mladic: «Hier sind wir in Srebrenica», rief er in die Kamera, «diese Stadt ist unser Geschenk an das serbische Volk.» Und als Erinnerung an einen serbischen Aufstand gegen die türkische Besetzung im Jahre 1804 fügte er an: «Endlich ist die Zeit der Rache an den Türken gekommen.»
Nach drei Jahren Belagerung hatten die Serben die Uno-Schutzzone Srebrenica fast kampflos erobert. Ihrem Sieg war eine radikale í„nderung der Politik des Westens vorausgegangen. Unter der Drohung der Engländer, ihre Truppen abzuziehen, hatten die USA plí¶tzlich Interesse an einem Frieden gezeigt, der die bosnisch-serbischen Gebietsgewinne bestätigt hätte. Sie hätten den Serben sogar Srebrenica überlassen im Tausch gegen ein paar Vorstädte von Sarajevo. Gleichzeitig war Slobodan Milosevic wegen der Wirtschaftssanktion so arg unter Druck geraten, dass er allenfalls bereit gewesen wäre, einen multiethnischen bosnischen Staat zu akzeptieren. Die Lage hatte sich vielversprechend gezeigt; Gerüchte von einem baldigen Friedensabkommen waren in Umlauf gekommen.
Doch daraus wurde nichts. Zu einem Frieden um jeden Preis konnten sich die USA schliesslich doch nicht durchringen. Worauf ein frustrierter Präsident Milosevic die Hunde von den Leinen liess. Er gab Momcilo Persic, dem jugoslawischen Generalstabschef, und dem serbisch-bosnischen General Ratko Mladic grünes Licht für Srebrenica. Wie amerikanische Abhí¶rspezialisten bald merken sollten, wurde der Angriff auf Srebrenica in Belgrad vorbereitet.
Am 6. Juli lí¶ste ein serbischer Raketenangriff auf einen holländischen Vorposten unter den Uno-Soldaten Panik aus. Das holländische Schutzbataillon war auf 429 Mann geschrumpft; den 150 Mann, die aus dem Urlaub zurückgekommen waren, hatten die Serben den Zutritt zur Schutzzone verweigert. Solange keine Nato-Kampfflugzeuge mit einem gewaltigen Gegenschlag einen Grossteil der serbischen Artillerie zerstí¶rten, stand das Leben dieser Holländer auf dem Spiel. Aber obschon die Nato-Kommandanten durchaus gewillt waren, ihre Flugzeuge für einen solchen Grosseinsatz loszuschicken, war der franzí¶sische Uno-Oberbefehlshaber General Janvier strikt dagegen. Sein Stellvertreter General Smith, der einen solchen Einsatz befürwortet hätte, war im Urlaub. So befahl die Uno-Zentrale den Holländern in Srebrenica, den serbischen Vormarsch mit quergestellten Schützenpanzern aufzuhalten.
Die holländischen Soldaten hielten nicht viel von dieser Idee. «Als diese Befehle weitergegeben wurden», erinnert sich ein Unteroffizier, «kriegten es alle mit der Angst zu tun. Bei einem solchen Einsatz konnte man leicht umkommen. Soweit ich wusste, waren wir nicht nach Srebrenica geschickt worden, um die Enklave zu verteidigen, sondern eher als eine Art aufgemotzte Beobachter.»
Frühmorgens am Montag, dem 10. Juli, führten die serbischen Kanoniere einen heftigen Artillerieangriff auf Srebrenica; ein vollbesetzter Uno-Schützenpanzer geriet angesichts einer herannahenden Granate von der Strasse ab. In der Folge baten die Holländer einmal mehr um Luftunterstützung. Als um 10.30 Uhr die Flugzeuge endlich eintrafen, zogen sie Kreise, patrouillierten und taten nichts.
Inzwischen waren Tausende von Flüchtlingen auf den Markt von Srebrenica gestrí¶mt. Viele von ihnen sassen auf ihren Bündeln und sahen, wie der Rauch ihrer brennenden Häuser in den Himmel stieg. Schliesslich brach die Menschenmenge auf der Suche nach Schutz vor den Granaten durch das Tor der holländischen Truppenunterkunft. Entsetzt drängten die Holländer die Flüchtlinge weiter ins muslimische Städtchen Potocari. «Alle hatten Angst», sagte Hasan Nuhanovic, ein Muslim, der für die Holländer als Dolmetscher gearbeitet hatte. Obschon er bei den Holländern darum gebettelt hatte, dass sie seine Angehí¶rigen auf die Liste der Uno-Bediensteten setzten, und obschon die Soldaten dies durchaus hätten tun kí¶nnen, lehnten sie ab. Nuhanovic hat seine Angehí¶rigen nie wieder gesehen.
Als am 11. Juli die vom holländischen Kommandanten garantierten Kampfbomber immer noch nicht aufgetaucht waren, gaben die 15 000 waffenfähigen Männer von Srebrenica ihre Stadt auf, um sich auf muslimisches Gebiet durchzuschlagen.
Ein Sommerabend Mitte Juni 1995. Vor der Säulenhalle an der Nordfront des Weissen Hauses tanzten der Präsident und die First Lady allein durch die laue Luft. Der franzí¶siche Präsident Jacques Chirac und seine Frau hatten sich eben verabschiedet. Während Hillary und Bill Clinton tanzten, standen die aussenpolitischen Berater des Präsidenten, Warren Christopher, Madeleine Albright, Samuel Berger und Richard Holbrooke, beisammen und schauten zu, denn die Nacht war warm, klar und schí¶n. Und das Weisse Haus, schreibt Holbrooke, «verstrí¶mte seinen ganz besonderen Zauber».
Dem verführerisch romantischen Rahmen zum Trotz gingen Richard Holbrooke, dem damaligen stellvertretenden Aussenminister für europäische und kanadische Angelegenheiten, andere Dinge durch den Kopf. «Ich sah Christopher an, besorgt, dass wir den Moment verpassen kí¶nnten», den Moment, den Holbrooke ängstlich erwartete, seit an jenem Morgen das Pre-brief, eine normalerweise ruhige Pro-forma-Sitzung, in welcher der Präsident von seinen Assistenten und Beratern auf ein Treffen mit einem ausländischen Staatschef vorbereitet wurde, «zu einem zornigen Streitgespräch ausgeartet war». Anlass zu diesen heftigen Gefühlen war wie schon so oft in jenem Frühjahr und Sommer die immer offensichtlichere Katastrophe in Bosnien gewesen, wo Sarajevo, Srebrenica und die anderen í¶stlichen Enklaven hartnäckig belagert wurden und die westlichen Staatschefs, die Soldaten für die Uno-Friedens- truppen gestellt hatten, damit drohten, ihre Truppen abzuziehen – eine gefährliche Unternehmung, die Präsident Clinton mit 20 000 amerikanischen Soldaten zu unterstützen gelobt hatte.
Während der Sitzung, schreibt Holbrooke, «stellten die Mitglieder des nationalen Sicherheistrates die Situation meiner Ansicht nach nicht richtig dar, insbesondere, was die Frage betraf, wie «automatisch» die USA in einen Abzug der Uno-Tuppen verwickelt wären. Als ich meine Einwände erläutern wollte, schnitt mir der Präsident das Wort ab. Er war offensichtlich verwirrt, dass er kurz vor einem wichtigen Staatsbesuch widersprüchlich informiert wurde.»
Im Auto unterwegs zur franzí¶sischen Botschaft, wo Präsident Chirac Holbrooke und Aussenminister Christopher zum Mittag- essen erwartete, äusserte der jüngere Diplomat seine «Bestürzung über das eben Geschehene». Christopher, den die Sitzung laut Holbrooke «sehr ernüchtert hatte», stimmte ihm zu, dass sie so bald wie mí¶glich mit dem Präsidenten reden müssten. ·
Womit wir wieder bei jener magischen Nacht wären: Die Chiracs sind nach einem angenehmen Abendessen eben gegangen, die Musik spielt, und auf dem Tanzboden des Weissen Hauses dreht das First Couple seine einsamen Kreise. Dann lí¶sen sich die Clintons aus ihrer Umarmung. Holbrooke packt die Gelegenheit beim Schopf.: ««Ich mí¶chte keinesfalls einen wunderschí¶nen Abend ruinieren, Mr. President», begann ich, «doch eine Sache sollten wir klar und deutlich machen. Gemäss den bestehenden Nato-Plänen sind die USA so oder so verpflichtet, Truppen nach Bosnien zu schicken, falls die Uno sich zum Abzug der Friedenstruppen entschliesst. Ich fürchte, wir haben da kaum Bewegungsfreiheit.»
Der Präsident sah mich überrascht an: «Was soll das heissen?» fragte er. «Ich entscheide über die Truppenfrage.»
Einen Moment lang herrschte Schweigen. «Mr. President», sagte ich, «die Nato hat den Abzugsplan bereits gutgeheissen. Und laut diesem sind wir automatisch in sehr vieles eingebunden, insbesondere, da wir uns í¶ffentlich verpflichtet haben, die Nato-Truppen zu unterstützen, falls die Vereinten Nationen sich zu einem Abzug der Friedenstruppen entschliessen.»
Der Präsident sah Christopher an. «Stimmt das?» sagte er.
«Es sieht so aus», sagte Christopher knapp.
«Ich schlage vor, wir sprechen morgen darüber», sagte der Präsident grimmig und ging ohne ein weiteres Wort mit Hillary davon.»
Holbrooke schreibt weiter: «Es liess sich ohne íœbertreibung sagen, dass die Rolle der USA in der europäischen Nachkriegs-Sicherheitspolitik auf dem Spiel stand. Wir mussten uns eindeutig eine Politik ausdenken, die den Abzug der Uno-Truppen verhinderte. Das bedeutete, dass die USA sich stärker engagieren mussten.»
Wenn Holbrookes normalerweise mustergültigen Gedankengängen hier etwas Paradoxes anhaftet, dann liegt das daran, dass Clintons schlagartiges Erfassen der Sachlage alles auf den Kopf gestellt hatte. Falls sich die Europäer aus Bosnien zurückzogen, wären die Amerikaner gezwungen, Truppen zu schicken. Um das zu verhindern, mussten die Amerikaner sich stärker engagieren. Clinton stand nun vor der Wahl, amerikanische Truppen nach Bosnien zu senden, um einen unrühmlichen Rückzug zu decken oder um ein Ende dieses Kriegs herbeizuführen.
Von Anthony Lake, Clintons Sonderberater für Fragen nationaler Sicherheit, der wie Holbrooke als junger Diplomat in Vietnam gewesen war, wusste man, dass er 1971 aus Protest über den von ihm so genannten «Einfall» der USA nach Kambodscha den Dienst in Henry Kissingers Stab quittiert hatte. Solche Kündigungen aus prinzipiellen Gründen waren in der amerikanischen Diplomatie ungewí¶hnlich. Jedenfalls vor Bosnien.
Kurz nach Clintons Amtsantritt hatte Richard Holbrooke das Weisse Haus besucht, um mit seinem alten Freund Anthony Lake zu Mittag zu essen. Zwar war Holbrooke ein Privatmann geblieben, aber die Bosnienfrage interessierte ihn zutiefst. Er hatte eine Erkundungsreise dorthin unternommen und fühlte sich «nun verpflichtet, fast schon gezwungen», der neuen Administration «ungefragt ein paar Gedanken» zu ihrer Bosnienpolitik mitzuteilen. Beim Mittag-essen mit Lake, erzählt Holbrooke, «drängte ich ihn, darauf hinzuwirken, dass die Amerikaner mehr unternahmen, um die nahende Katastrophe aufzuhalten. Lake protestierte mit dem Argument, zwar stürben noch immer viele Menschen, «doch weisst du gar nicht, wieviel mehr Menschen ohne unsere Bemühungen schon gestorben wären». Ich sagte, das kí¶nne wohl sein, sei aber irrelevant.»
Lake, der Idealist, hatte schnell feststellen müssen, dass jede Politik, die sein Präsident absegnete, weit entfernt von den mutigen Worten war, die er, Lake, für den Präsidenten bei seinem Amtsantritt geschrieben hatte; die Gefühle mochten idealistisch und volksnah sein, doch danach zu handeln hätte eine Art von Engagement erfordert, das Bill Clinton gar nie erwogen hatte.
Im Sommer 1995 mussten Lake und Holbrooke zusammen eine neue Politik für Bosnien ausarbeiten. «Ich will, dass der diplomatische Prozess wieder in Gang gebracht wird», sagte Clinton und fügte hinzu, er habe das Gefühl, man komme nicht voran, weil es laut den Uno-Vereinbarungen den USA und ihren Verbündeten verboten sei, mit den bosnischen Serben Gespräche zu führen. «Wir müssen sie an den Verhandlungstisch bringen.»
Holbrooke schreibt, er habe darauf gedrängt, Luftangriffe gegen die Serben zu führen, «in anderen Landesteilen ebenso wie in Srebrenica», doch sein Vorschlag sei «von den westeuropäischen Nationen, die gefährdete Truppen in Bosnien hatten, und vom Pentagon abgelehnt worden».
Es gab aber noch einen anderen Vorschlag, der direkt von jenem Manne kam, der unlängst Clintons Gast gewesen war. Am 13. Juli, als General Mladic’ Truppen Srebrenica von Frauen und Kindern «säuberten», rief Jacques Chirac Bill Clinton an. Bob Woodward von der «Washington Post» hat das Gespräch überliefert:
««Was sollen wir jetzt tun?» fragte Clinton Chirac.
Chirac zeigte sich moralisch entrüstet. Das sei ja wie im Zweiten Weltkrieg. Die Serben sonderten die Männer aus und verschleppten sie in Lager. «Wir müssen etwas tun.»
«Ja», sagte Clinton, «wir müssen handeln.»
Chirac machte einen atemberaubenden Vorschlag. Sie sollten mit franzí¶sischen Bodentruppen und amerikanischen Helikoptern die Stadt zurückerobern.»
Laut Woodward war Bill Clinton ob dieses ausgefallenen Vorschlags «sichtlich baff». Holbrookes Version jedoch klingt plausibler. Chiracs Vorschlag, schreibt er, «war in offiziellen franzí¶sischen Kreisen bereits diskutiert worden und nicht nur bei den Briten und beim Pentagon, sondern bei Chiracs eigenen Generälen auf erbitterten Widerstand gestossen». Dieser Widerstand wäre vielleicht überwindbar gewesen, aber dafür hätte der ehemalige Kavallerist und neue franzí¶sische Präsident Clintons Unterstützung gebraucht. Sie blieb aus. Clinton, der von Beratern und anderen das Gespräch mithí¶renden Regierungsbeamten umgeben war, machte laut Woodward «klar, dass er Chiracs Vorschlag nicht für praktikabel hielt und nicht mitmachen wollte». ·
Clinton legte auf, betrachtete die Gesichter der Männer um ihn herum und wandte sich dann laut Woodward an einen jungen Marineoffizier, der für einen Botengang ins Büro gekommen war.
««Was meinen Sie, was wir in Bosnien tun sollten?» fragte Clinton.
«Ich weiss es nicht, Mr. President», antwortete der vollkommen verblüffte Offizier.»
Drei Tage später, am Nachmittag des 16. Juli 1995, begab sich Richard Holbrooke ins CNN-Studio zu einem Interview. Thema: «Der bosnische Sumpf: Werden die USA ins Chaos hineingezogen?» An diesem Sonntag, erzählt Holbrooke in seinen Memoiren, «waren uns präzise Details der Ereignisse in Srebrenica nicht bekannt. Aber es war keine Frage, dass etwas wahrhaft Schreckliches passierte.»
Worin hätten die Details bestehen kí¶nnen? Kí¶nnte die Aussage des bosnischen Ministers Hasan Muratovic, der am 13. Juli den amerikanischen Botschafter in Sarajevo alarmierte, dass serbische Soldaten mehr als 1000 muslimische Gefangene in einem Fussballstadion in Bratunac zusammengetrieben hatten, ein solches Detail sein? Oder das Telegramm des bosnischen Aussenministers Mohammed Sacirbey, das Washington am 13. Juli via das Londoner Aussenministerium erreichte: «Flüchtlinge wurden ohne Unprofor-Eskorte aus der Enklave abtransportiert. Viele werden von der Strasse abgetrieben, und Grausamkeiten werden an ihnen verübt.» Sollten diese Details als nicht präzis genug eingestuft worden sein, dann liegt der Verdacht nahe, dass die immer noch unter Verschluss gehaltenen amerikanischen Aufklärungsfotos und nachrichtendienstlichen Meldungen noch genauere Details enthalten dürften.
Während Holbrooke interviewt wurde, sassen die meisten holländischen Friedenssoldaten in der Falle auf dem Uno-Gelände in Potocari, wohin sie die chaotische Welle der Flüchtlinge getragen hatte. Verzweifelt hatten sich die Muslime beim Ansturm der Serben an die Lukentüren und Rückspiegeln der gepanzerten Uno-Fahrzeuge geklammert. Ein holländischer Bericht erwähnte später das wiederholte dumpfe Geräusch, wenn wieder ein «Flüchtling unter die Räder eines Panzerfahrzeuges geraten war».
Die Serben hatten in Bratunac 59 Holländer als Geiseln genommen. Sie tranken im Hotel Bier und telefonierten mit ihren Verwandten. Laut dem Untersuchungsbericht des holländischen Verteidigungsministeriums hí¶rten die Geiseln am 14. Juli in Bratunac «Schüsse aus der Richtung des Fussballstadions». Die holländischen Soldaten, fährt der Report fort, «fanden aber keine Opfer».
Was geschah auf dem Fussballfeld? Nachdem die Bosnier den amerikanischen Botschafter in Sarajevo am 13. Juli alarmiert hatten, beschafften die amerikanischen Nachrichtendienste ein Foto des Stadions, das die bosnische Information nicht bestätigte. «Weitere Recherchen wurden keine unternommen» steht im nachrichtendienstlichen Protokoll. Wenn diese Aussage stimmt, ist das, im Licht der «präzisen Details», die wir jetzt kennen, ein schreckliches Eingeständnis: Die amerikanische Regierung hätte die Mí¶glichkeit gehabt, den Meldungen aus Bosnien mit Flugaufnahmen nachzugehen.
In der Morgendämmerung des 22. Juli 1995 rumpelte ein langer Zug weisser Jeeps, Lastwagen und Panzerfahrzeuge an jubelnden Soldaten und Würdenträgern im Uno-Hauptquartier in Zagreb vorbei. Grinsend unter ihren blauen Helmen paradierten die 429 holländischen Soldaten vor dem holländischen Verteidigungsminister Joris Voorhoeve und dem Kronprinzen Willem Alexander.
An der Pressekonferenz am nächsten Tag stimmte Oberst Tom Karremans ein Lob auf die militärischen Fähigkeiten von Ratko Mladic an. General Mladic hätte Srebrenica mit einer «hervorragend geplanten militärischen Operation» eingenommen. Seine Leute, gestand Karremans ein, seien von der bosnisch-serbischen Armee «clever ausmaní¶vriert» worden. «Die Serben machten das alles sehr geschickt», sagte Karremans, «wie eine Partie PacMan.»
Die Eroberung von Srebrenica war auch eine Meisterleistung in Sachen «ethnischer Säuberung». Innerhalb 30 Stunden vertrieben Mladic’ Leute 23 000 Frauen und Kinder, innerhalb von fünf Tagen ermordeten sie 7000 Männer. Es gab keine Lager wie im Sommer 1992, die neugierige Reporter auf den Plan gerufen hätten. Autobusse, Lastwagen und Turnhallen waren Mladic’ provisorische Gefängnisse, die Operation beruhte auf der sorgfältig geplanten Choreographie der Transportmittel.
Als General Ratko Mladic wenige Tage zuvor dem Meer von Gesichtern gegenüberstand, die das Uno-Gelände in Potocari überschwemmt hatten, und seine Stimme hob, um die í„ngste zu zerstreuen, folgte er einem Drehbuch, das sich in der Folge unzählige Male wiederholen würde. Vor laufender serbischer Kamera verteilte der General Süssigkeiten an die ausgemergelten Kinder, und dann sagte er den vor Angst hysterischen Menschen, sie würden auf muslimisches Territorium ausgeschafft, wenn sie das wünschten. Aber als die holländischen Blauhelme, die davon ausgingen, dass jedem Bus ein Uno-Begleitfahrzeug zur Seite gestellt würde, die Bedingungen des Flüchtlingstransportes aushandeln wollten, machte der serbische Behfehlshaber einem holländischen Offizier klar: «Hier befehle ich. Ich entscheide was geschieht. Ich habe meine Pläne und ich werde sie ausführen. Für sie wäre es das beste, zu kooperieren.»
Am selben Tag, dem 12. Juli, informierte Kofi Annan in New York die Botschafter von Italien und der «Kontaktgruppe», zu der die USA, Russland, England, Frankreich und Deutschland gehí¶rten, er wolle über die Lage in Srebrenica eine Resolution vorbereiten. Der heutige Uno-Generalsekretär war damals Untergeneralsekretär für friedens-sichernde Operationen. Gemäss der Meldung der amerikanischen Vertretung «sagte Annan, das Uno-Sekretariat sei besorgt darüber, dass die Resolution unrealistische Erwartungen wecken kí¶nnte. Laut Unprofor sei eine militärische Antwort auf die bosnisch-serbische Attacke nämlich auf keinen Fall mí¶glich. Deshalb konzentrierten sich die Uno-Bodentruppen in Bosnien darauf, die Zivilbeví¶lkerung der Enklave zu schützen und ihre Evakuation vorzubereiten.»
Und weil er den grí¶ssten Widerstand gegenüber dieser Haltung von der bosnischen Regierung befürchtete, bat «Annan die Mitglieder der Kontaktgruppe, die bosnische Regierung mit Nachdruck dazuzubringen, diese Operation zu unterstützen».
Zur gleichen Zeit errreichte den holländischen Verteidigungsminister Oberst Karremans alarmierende Nachricht aus Potocari. Dort habe General Mladic die Absicht, die Männer von den Frauen und Kindern zu trennen. Karremans fügte bei, «dass man die erzwungene Evakuation mí¶glichst human über die Bühne bringen muss». Die Bedeutung dieser Worte zeigte sich, als die Flüchtlingsmenge mit ihren Babies auf dem Arm, ihren Koffern und Bündeln zum Bus drängte und sich durch einen improvisierten Korridor holländischer Blauhelme zwängte. Die Serben drängten die muslimischen Männer grob zur Seite. Die Frauen riefen, weinten, klammerten sich an die Hände ihrer Männer. Es hatte keinen Zweck. Die Männer wurden weggeführt und von den Serben zur «Befragung» gebracht. Auf dem Videoband des serbischen Fernsehens hí¶rt man die erregte Stimme eines Militärbeobachters aus Kenya: «Wohin werden diese Männner geführt? Werden sie voneinander getrennt? Zu viele Menschen und zuwenig Platz, das ist nicht gut.»
Währenddessen wurden Frauen und Kinder ohne Uno-Eskorte durch die Nacht gefahren. Immer wieder wurden die Busse angehalten und junge Frauen herausgezerrt, niemand hat sie wiedergesehen. Eric Stover hat im Auftrag des Haager Kriegsverbrechergerichtshofs den Bericht einer Frau aufgezeichnet:
«Ein junger Serbe stieg zu. Er war jung und hatte einen harten Ausdruck. Er stank nach Alkohol und Zigaretten. Er fluchte, und unvermittelt zog er ein langes Messer und hielt es in die Luft. Er lächelte. Plí¶tzlich beugte er sich vor und, mit einer Bewegung, zog er die Klinge durch die Kehle eines Babys, das im Arm seiner Mutter schlief. Blut spritzte ans Fenster und auf den Sitz. Schreie füllten den Bus. Der Mann schrie die Frau an und drückte ihren Kopf nieder. «Trink, du muslimische Hure, schrie er, trink es!»»
«Präzise Details», wie Holbrooke sagt, gab es keine, aber sie waren nicht ní¶tig. «Nach dem Fall von Srebrenica», sagte ein amerikanischer Nachrichtenoffizier zur «Washington Post», «wussten wir alle, dass Grausamkeiten geschehen würden.» Um sie zu verhindern, hätte es Entscheide an der Spitze der Regierung gebraucht. Die politische Führung Amerikas hätte General Mladic und Dr. Radovan Karazic klarmachen müssen, dass Greueltaten in Srebrenica sofort beantwortet würden mit – ja, womit?
In Srebrenica, sagt Holbrooke, hat die Politik des Westens ihren Tiefpunkt erreicht. Doch das diplomatische Spiel ging weiter, als ob nichts geschehen wäre. Der amerikanische Abgesandte Robert Frasure schimpfte mit Milosevic, worauf dieser antwortete: «Warum soll ich schuld sein? Ich kann Mladic seit Tagen nicht erreichen.»
General Mladic war in der Tat sehr beschäftigt. Zweijährig war er gewesen, als die Ustascha seinen Vater umgebracht hatte, der Moment der Rache war jetzt gekommen. In fast manischer Hochstimmung lenkte er seinen roten Sportwagen von einem Hinrichtungsplatz zum nächsten. Zuerst kamen die Männer an die Reihe, die in der Enklave zurückgeblieben waren.«Die serbischen Soldaten bildeten zwei Reihen, durch die ein muslimischer Gefangener zu gehen hatte. Von links wurde der Mann mit einem eisernen Knüppel niedergeschlagen. Von rechts sauste die Axt in den Rücken des Wehrlosen. Sein Kí¶rper bäumte sich auf. Blut spritzte auf die Strasse», schreibt der Journalist Chuck Sudetic.
Dann kamen die 15 000 Männer an die Reihe, die Srebrenica bereits vor dem Einmarsch der Serben verlassen hatten, in der Hoffnung, sich auf die muslimische Seite durchschlagen zu kí¶nnen. Ausgehungert, durstig, übermüdet, wie im Delirium zogen sie in einer langen Karawane über die Hí¶hen. Einige Kilometer ausser-halb Srebrenicas warteten die Maschinengewehre der Serben. Wohlgezielte Salven aus dem Hinterhalt trieben die Flüchtenden zur Hysterie. Drei- bis viertausend Muslime ergaben sich. Sie alle wurden umgebracht. Eine Gruppe dieser Männer hat ein amerikanischer Aufklärungssatellit fotografiert, am 13. oder 14. Juli, hí¶chstens zwei Tage nach dem Fall von Srebrenica. Sie knien auf einem Fussballplatz, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, umringt von serbischen Wachen.
Drei Wochen später, als die Männer von Srebrenica längst verscharrt waren, zeigten die Amerikaner diese Bilder im Uno-Sicherheitsrat. Madeleine Albright, die amerikanische Uno-Botschafterin, hatte schon am 13. Juli aus bosnischen Quellen vom Massaker erfahren und sich an Sicherheitsberater Sandy Berger gewandt. Es gebe keine Beweise, hatte Berger ungerührt geantwortet. Die Bilder aus der Luft waren nicht ausgewertet worden. «Die meisten dieser Horrorbilder haben wir gar nicht angeschaut», sagte später ein Beamter der nationalen Auswertungsstelle zur «Washington Post». Die Gruppe der Spionageabwehr, die sich ausschliesslich mit Bosnien befasste, hatte den Auftrag, «Beweismaterial für diplomatische Verhandlungen zu sammeln», und nicht, Menschenleben zu retten.
Die einzigen Zeugen dieses fieberhaften, aber planvollen Schlachtens waren die holländischen Uno-Soldaten, die Mladic als Geiseln genommen hatte. Doch in Zagreb, an der Pressekonferenz der freigelassenen holländischen Blauhelme, wurde das Thema nicht angeschnitten. Das Schicksal der Muslime von Srebrenica war für ihre ehemaligen «Beschützer» nicht der Rede wert. Nach Srebrenica nahm General Mladic Westbosnien ins Visier. In der Euphorie überschätzte er seine Kräfte. Die Kroaten antworteten mit einem brutalen Angriff und vertrieben 150 000 Serben aus der Krajina. Es war die erste Niederlage der Serben.
Clinton wusste, dass er nicht darum herumkommen würde, amerikanische Truppen nach Bosnien zu schicken. Er hatte die Wahl, entweder die Uno-Truppen rauszuholen oder die Schlächtereien schnell zu beenden. Zuletzt war der Krieg in Bosnien doch ein amerikanischer Krieg geworden. ·
Vorderseite Slobodan Milosevic, Alija Izetbegovic und Franjo Tudjman nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Dayton, USA, am 21. November 1995.
Unten Evakuierte Verletzte aus Srebrenica nach ihrer Ankunft in Tuzla, April 1993.
Rechts Slobodan Milosevic und Alija Izetbegovic bei ihren ersten offiziellen bilateralen Verhandlungen am 3. Oktober 1996 in Paris.
Unten Massengrab für Muslime in Zentralbosnien, Sommer 1993 (links). Muslimisches Begräbnis in Sarajevo, Sommer 1993.
Die Aufteilung von Bosnien nach dem Friedensabkommen vom 21. November 1995 in Dayton, USA. Bosnien bleibt als Staat mit zentralen Institutionen auf dem Papier erhalten. Doch das reale politische Leben spielt sich in den zwei ethnisch gesonderten Teilen ab.
Links Unterstaatssekretär Richard Holbrooke, der amerikanische Vermittler in Bosnien, irgendwo unterwegs zwischen Belgrad und Sarajevo in den Tagen vor dem Waffenstillstand am 4. Oktober 1995.
Rechts Ratko Mladic, General der bosnisch-serbischen Armee, beim Anstossen mit Oberst Tom Karremans, Kommandant des holländischen Uno-Bataillons, auf dem Uno-Gelände von Potocari, 12. Juli 1995. Am Vortag haben die Serben die Schutzzone von Srebrenica erobert und 59 Holländer als Geiseln genommen.
Der feierliche Schlussakt des Bosniendramas fand im Pariser Elyséepalast anlässlich der Unterzeichnung des Friedensabkommens statt. Von links nach rechts: Slobodan Milosevic (Sr), Franjo Tudjman (Cro), Alija Izetbegovic (BiH), Bill Clinton (USA), Jacques Chirac (F), Helmut Kohl (D), John Major (UK), Wiktor Tschernomyrdin (Russ).
Kroatische Flüchtlinge in Kutina, 30. Juli 1991, nach der serbischen Machtübernahme in der Krajina. Die erste grosse Flüchtlingswelle dieses Krieges.